Von Peter Stippel
Crowd“ ist das englische Wort für Gewühl, Gewimmel, Gedränge oder präziser ausgedrückt: eine große Ansammlung von Menschen, die sich zwischen einer wilden Horde und einer gerade noch erfassbaren Gruppe von Individuen verorten lässt. Mehr als 200 Jahre beschäftigten sich ausschließlich Psychologen und Politiker mit diesem Phänomen. Erst mit dem Internet rückte die Crowd in den Fokus der Wirtschaft. Denn die Offenheit und die Vernetzung, die das Web bietet, bescherte der Welt nicht nur den „Shitstorm“ und die „Schwarmintelligenz“, sondern auch Menschen, die ein paar Euro verdienen, sparen oder investieren wollen. Sie zu finden und zu binden, das ist mittlerweile eine Kunst, die viele Unternehmer beherrschen müssen – vor allem junge Gründer wie Timo Müller und Nils Mahler.
Die beiden Geschäftsführer der Lingoking GmbH betreiben einen Online-Service, hinter dem rund 2.500 Sprachprofis ihre Übersetzungsdienste anbieten. Ein Highlight der Münchner ist der Dolmetscher am Telefon. Das funktioniert so: Ein Kunde schickt Informationen über sich, den Inhalt des Gesprächs sowie die gewünschte Sprache. Bereits nach wenigen Minuten nimmt ein Dolmetscher Kontakt auf, klärt die Einzelheiten und den Zeitpunkt, zu dem der Anruf stattfinden soll. Abgerechnet wird im Minutentakt. „Crowdsourcing“ heißt diese Form der Leistungserbringung. Das Internet dient dabei als Marktplatz, als eine Plattform für Aufträge, über die sich die Schar der Freiberufler hermacht, so wie ein Schwarm hungriger Vögel auf hingestreute Körner. Im Fall Lingoking entscheidet, wie Müller es ausdrückt, der „Geschwindigkeitskampf“ darüber, wer den Zuschlag bekommt.
Kapitalbeschaffung im Hausflur
Den zündenden Funken für die Geschäftsidee hatten die Jungunternehmer nach einer Autopanne auf Korsika. Warum, so fragten sich die zwei ratlosen Touristen, gibt es jetzt keinen sprachkundigen Helfer, der schnell verfügbar ist und dessen Hilfe transparent abgerechnet werden kann? Zurück aus dem Urlaub kündigten Müller und Mahler ihre Jobs bei der Stream5 GmbH, einem Anbieter von Online-Videotechnologie, und wagten sich ins Abenteuer Startup. Im August 2010 erfolgte die Gründung der GmbH und die Aufgabenteilung. Mahler übernahm das Marketing und den Vertrieb. Müller arbeitete sich in die Bereiche Operations und Finanzen ein. Später stießen der IT-Spezialist Christian Koch und der Webdesigner Krunoslav („Uno“) Jüngling-Colic zum Team und beteiligten sich auch am Kapital. Das erste Jahr war hart. Drei Monate hielten sich Mahler und Müller mit ihren Ersparnissen und mit freiberuflicher Arbeit über Wasser. Neun Monate überwies die Agentur für Arbeit den Gründungszuschuss. Danach mussten Business Angels und Risikokapitalgeber die weitere Finanzierung stemmen. Einer davon ist Dennis von Ferenczy, Mitgründer der Amiando GmbH. Amindo ging zum Jahreswechsel 2011/12 für rund zehn Millionen Euro an die Xing AG. Der Zufall wollte es, dass Ferenczy zum Zeitpunkt der Lingoking-Gründung im gleichen Haus wohnte wie Nils Mahler. Den Weg zum Müllcontainer nutzte Mahler deshalb, um seinem Nachbarn die Idee des Dolmetscher-Portals zu verkaufen. Der Amiando-Mann war überzeugt und beteiligte sich im März 2011 mit fünf Prozent am Kapital. Ebenfalls fünf Prozent erwarben der Rechtsanwalt Andreas Pinter, der aus dem Netzwerk von Stream5 stammt, sowie Torsten Schubert, „Multi-Gründer“ aus Aschersleben, der gern bei der Aussaat junger Unternehmen – der „Seed-Phase“ – dabei ist.
2011 waren die Lingokings damit beschäftigt, ihr Internetportal zum Laufen zu bringen, die Fremdsprachler mit der Benutzeroberfläche vertraut zu machen und ein Abrechnungsmodell zu finden, das einfach und transparent ist. Aufträge, die über die Hotline hereinkommen, rechnet der Dienstleister heute mit 2,89 Euro pro Dolmetsch-Minute ab, unabhängig von der gewählten Sprache und dem Standort. Hinzu kommt die Mehrwertsteuer. Der Dolmetscher erhält 80 Cent. Das sind 48 Euro pro Stunde, rund sieben Euro weniger als nach dem Justizvergütungs- und -entschädigungsgesetz für eine Übersetzungsleistung gezahlt wird. „Er bekommt bei uns aber eine garantierte Bezahlung“, rechtfertigt Nils Mahler die Differenz. Ein Vorteil für den Freiberufler ist auch, dass die Akquisition, die Rechnungsstellung und die Mahnung säumiger Kunden wegfallen.
Was Crowdfunder leisten
Weil der Gründungszuschuss und die Anschubfinanzierungen schneller aufgebraucht waren als die Umsätze wuchsen, mussten die Gründer Ende 2011 erneut auf Crowd-Schau gehen. Zwischen den Business Angels und den Venture Capital-Gebern hat die Branche schließlich das „Crowdfunding“ gesetzt. Crowdfunder sind Investoren, die mit kleinen Beträgen und großer Begeisterung ins Wagnis gehen. In Deutschland haben sich ein Dutzend Dienstleister auf das Geschäft mit den Minikapitalgebern spezialisiert. Lingoking entschied sich für die Seedmatch GmbH aus Dresden.
Mit Seedmatch ging es ruckzuck. Das erste Treffen fand am 9. Januar 2012 statt. Bereits am 2. Februar gingen die Münchner online. Fünfeinhalb Stunden später war die im Vermögensanlagengesetz festgelegte Obergrenze von 100.000 Euro erreicht. Insgesamt stiegen 137 Investoren mit Summen zwischen 250 und 10.000 Euro ein. Weil keine Prospektpflicht bestand, fand auch keine ausführliche Prüfung der Vermögensanlage und des Geschäftsmodells statt. Für Timo Müller der beste Beweis, „dass wir mit unserer Idee die Masse begeistern können.“ Die Beteiligung ist auf fünf Jahre angelegt. In dieser Zeit dürfte sich herausstellen, ob Lingoking aufsteigt oder in den Weiten des Internets versinkt.
Durchbruch mit Investor
Die Zeit drängt. Die Sprachkönige müssen jetzt Gas geben, gleichzeitig streng haushalten und das Profil schärfen. „Unser klarstes Alleinstellungsmerkmal ist die Technologie, wir sind Onliner und sehen ein Riesenpotenzial in der Automatisierung“, erläutert Müller. Eine App für Smartphones ist daher in Vorbereitung. Die Integration von Sprachwerkzeugen ist nur eine Frage der Zeit. Google bietet bereits „Translator Toolkits“ und Apple ist mit der Spracherkennungssoftware „Siri“ dabei. Noch sind diese Programme kein Ersatz für die menschliche Stimme. Wenn die Entwicklung allerdings voranschreitet, „dann setzen wir die Technologie ein“, so Müller. Kurzfristig braucht Lingoking aber mehr Umsatz. Um neue Kunden zu gewinnen, bieten Mahler und Müller Schnupperabos und investieren in Online-Marketing. Außerdem läuft die Suche nach einem strategischen Investor auf Hochtouren. Mit dem Sprachenportal der Pons GmbH und der Change Project GmbH, Spezialist für interkulturelle Themen, gibt es bereits eine Zusammenarbeit. Weitere Wunschkandidaten sind Online-Sprachschulen, Reiseveranstalter, Fluggesellschaften und Auslandskrankenversicherungen.
München ist dabei ein guter Standort. Die bayerische Landeshauptstadt ist zwar nicht das Mekka der Internet-Generation – das ist Berlin -, dafür gibt es exportstarke Unternehmen und finanzkräftige Partner. An einen Verkauf denken die beiden Gründer übrigens nicht. Sie wollen, wie Müller es ausdrückt, aus Lingoking „etwas richtig Großes und Geiles machen“ und für diese Vision weiterhin den Gürtel eng schnallen. Im Augenblick liegt das monatliche Geschäftsführergehalt bei 1.800 Euro — brutto.
Zuerst erschienen: Creditreform 5/2013
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