Michael Kurtenbach, Vorstandsvorsitzender der Gothaer Krankenversicherung AG und der Gothaer Lebensversicherung AG, spricht im Interview über neuen Schwung im bAV-Geschäft, das Damoklesschwert Nahles-Rente und die große Branchenhoffnung bKV.
Politiker und Wirtschaftslenker feiern in Sonntagsreden gern das Modell der betrieblichen Altersversorgung (bAV). Tatsächlich ist der Durchdringungsgrad gerade im Mittelstand aber nach wie vor schwach. Was läuft falsch im Staate?
Der Durchdringungsgrad liegt nach den jüngsten Erhebungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales hierzulande bei 59,5 Prozent.. Im Jahr vor der Einführung des Rechtsanpruchs der Beschäftigten auf Entgeltumwandlung betrug die Durchdringungsquote nur 48,7 Prozent. Die Steigerung um mehr als zehn Prozentpunkte ist erst einmal positiv.
Im internationalen Vergleich, verglichen etwa mit den USA, Niederlanden, Dänemark oder Großbritannien, sind knapp 60 Prozent Durchdringungsquote aber eher wenig.
Da haben Sie Recht. Ein wesentlicher Grund für die höhere bAV-Quote etwa in den USA sind die dortigen Opting-out-Modelle. Während deutsche Arbeitnehmer sich aktiv für eine bAV entscheiden müssen, brauchen Beschäftigte bei einem Opting-out Modell nur dann tätig zu werden, wenn sie keine bAV wünschen. Ein weiterer Punkt, der die deutsche bAV schwächt, ist ganz ohne Frage deren Komplexität. Gerade viele mittelständische Unternehmen schrecken aus diesem Grund vor dem Thema zurück. Hier besteht oftmals auch noch großer Informationsbedarf. Die Versicherungsbranche ist in ihrer Beraterfunktion gefordert.
Zurzeit ist die Versicherungsbranche aber auch im politischen Raum stark gefordert. Anders gefragt: Wie groß sind Ihre Sorgen, was die Tariffonds-Idee von Ministerin Andrea Nahles angeht? Sehen Sie – sollte es zu den Megatariffonds von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften kommen – hier die Felle für die Versicherungswirtschaft wegschwimmen?
Die Sorge vor der Nahles-Rente ist sicherlich nicht unbegründet. Machen wir uns nichts vor: Wenn das „Neue Sozialpartnermodell Betriebsrente“ kommt, wird die bAV noch komplexer, weil neben die bereits existierenden Durchführungswege ein neues System gesetzt wird. Für dieses neue System sollen zum Teil andere Spielregeln gelten als für die bereits etablierten bAV-Systeme. Dies wird bei Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu Unsicherheit führen. Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften haben sich bereits sehr kritisch zum Vorschlag von Frau Nahles geäußert.. Immerhin: Das Ministerium hat auf diese Kritik bereits reagiert. Nach eigenem Bekunden war dies nur ein erster Aufschlag, um die Diskussion zu eröffnen. Bis zu einem Gesetzesentwurf ist es noch ein weiter Weg. Ich bin fest davon überzeugt: Der bAV-Verbreitungsgrad – gerade im Bereich der kleinen und mittleren Unternehmen ließe sich mit anderen Maßnahmen viel besser steigern.
Und wie?
Die drei entscheidenden Stichworte sind „Erweiterung der Möglichkeiten“, „Erhöhung der Attraktivität“ und „Opting-out“. Die Fördergrenzen sollten erhöht werden, damit die Arbeitnehmer ihre Rentenlücke besser schließen können. Die Attraktivität kann zum Beispiel erhöht werden, in dem eine bAV-Rente im Alter nicht auf die Grundsicherung angerechnet wird. Ein Opting-Out führt dazu, dass sich die Beschäftigten konkret mit der Absicherung für das Alter auseinandersetzen und das Thema nicht auf die lange Bank schieben.
Ist die Angst gerade vieler Mittelständler vor realen oder vermeintlichen Lasten in der Zukunft das größte Hemmnis für die bAV?
Da sprechen Sie einen zentralen Problempunkt an. Dieses Problem ist aber eher eines der Vergangenheit. Heute belasten sich Unternehmen beispielsweise nicht mehr mit Zusagen, bei denen dem Arbeitnehmer eine Rente in Höhe von x Prozent seines letzten Gehalts garantiert wird. . Bei den heutigen bAV-Modellen ist die bAV-Leistung, die der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer zusagt, identisch mit der Rente, die aus der hierfür abgeschlossenen Versicherung gezahlt wird. Der Arbeitgeber bürdet sich keine Lasten für die Zukunft auf.
Warum sehen Unternehmer die bAV heute meist nur unter Risikoaspekten. Sie stellt doch zugleich eine große Chance dar, rarer werdende Fach- und Nachwuchskräfte langfristig an den Betrieb zu binden?
Auch wir registrieren immer wieder, dass gerade Mittelständler die bAV oft nur unter Kosten-, Bürokratie- oder Risikoaspekten betrachten. Im bAV-Gerangel zwischen Personalabteilung und Finanzetage eines Unternehmens spielen wichtige Vorteile der bAV bei der Mitarbeitergewinnung und –bindung leider noch eine untergeordnete Rolle. Hier zeichnet sich aber eine Veränderung ab. Unternehmen suchen zunehmend nach Möglichkeiten, hochspezialisierte Fachkräfte an sich zu binden. Der Kampf um die Talente hat in vielen Branchen bereits begonnen. Hier ist die bAV ein sehr gutes Instrument, um teuer ausgebildete Mitarbeiter nicht an die Konkurrenz zu verlieren.
Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem eigenen laufenden bAV-Geschäft?
Es tut sich viel, aber Luft nach oben gibt es immer. Die derzeit wohl größte Herausforderung für uns und viele unserer Wettbewerber dürfte darin bestehen, die Durchdringungsquoten in den Unternehmen zu erhöhen. Wir haben mit sehr vielen Firmen bereits Rahmenverträge abgeschlossen, bei denen dann nur ein Bruchteil der Arbeitnehmer mitmacht. Das Problem ist also weniger, dass wir die Unternehmen nicht erreichen, sondern dass wir die Beschäftigen, gerade neueintretende Mitarbeiter, nicht im notwendigen Maße überzeugen können.
Neben dem bAV-Kollektivgeschäft setzt die Branche landauf, landab große Stücke auf die betriebliche Krankenversicherung (bKV). Zu Recht?
Ein klares Ja. Das Thema Gesundheitsprävention wird für mehr und mehr Unternehmen wichtig. Für die bKV interessieren sich aktuell vor allem die größeren Unternehmen. Und meist solche Firmen, die bereits im Bereich bAV gut aufgestellt sind. Doch nicht alle Unternehmen, die ihren Beschäftigten bKV anbieten, lassen sich das auch was kosten.
Wie meinen Sie das?
Ich antworte mal mit einer Gegenfrage: Tut der Arbeitgeber nicht bereits etwas, wenn er einen Kollektivvertrag abschließt, die Arbeitnehmer aber die Beiträge komplett allein zahlen müssen?
Eher nicht.
Die Firmenchefs, unsere Vertragspartner, sehen das meist anders. Sie möchten ihren Mitarbeitern mehr privaten Gesundheitsschutz bieten, wollen aber keine zusätzlichen Kosten für das Unternehmen generieren.
Worin besteht dann überhaupt noch der Vorteil von bKV-Angeboten aus Sicht der Arbeitnehmer?
Sie profitieren von Gruppenrabatten, im Schnitt sind das rund fünf Prozent Ersparnis. Dazu kommt ein erleichterter Zugang zum Tarif in Form einer – je nach Kollektivgröße – vereinfachten bis ganz entfallenden Gesundheitsprüfung. Zudem gibt es auch Mischfinanzierungen, bei denen der Arbeitgeber die Kosten im ersten Jahr übernimmt.
Manche Wettbewerber werben mit bKV-Tarifen, die der Chef zahlt?
Die gibt es auch, sie spielen derzeit aber eine vernachlässigbare Rolle am Markt. Bei Neuverträgen zahlt meist (nur) der Arbeitnehmer die Beiträge. Mit der Änderung der 44-Euro-Freigrenze im Steuerrecht ist ein Argument für arbeitgeberfinanzierte bKV-Tarife weggefallen. Doch vor dem Hintergrund des demographischen Wandels werden spezielle Teilleistungen in der arbeitgeberfinanzierten bKV als Instrument zur Erhaltung der Gesundheit der Mitarbeiter und auch beim Thema Mitarbeitergewinnung und –bindung an Stellenwert gewinnen. Bei unserer Produktfamilie „MediGroup“ führen wir deshalb im Jahresverlauf zusätzliche arbeitgeberfinanzierte Module ein. Dann kann sich beispielsweise der Beschäftigte für die Chefarztbehandlung oder das Einbettzimmer im Krankenhaus entscheiden oder wichtige Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch nehmen – und der Chef bezahlt.
Alters- oder Gesundheitsvorsorge im Kollektiv gehören in vielen Firmen bereits zur Tagesordnung. Eine ganz neue Entwicklung ist die gemeinsame Abdeckung der Arbeitskraft. Was steckt dahinter?
Unsere vor drei Jahren eingeführte selbstständige Berufsunfähigkeitsversicherung hat unsere Erwartungen deutlich übertroffen. Bemerkenswert daran ist vor allem die Tatsache, dass sich die Nachfrage ganz klar in Richtung Kollektive verschiebt. Die kollektive BU – meist bezahlt von den Beschäftigten selbst – hat großes Potenzial und könnte auch Personen den dringend benötigten Arbeitskraftschutz bieten, den sie sich heute nicht leisten können. Die Kalkulation erfolgt hier fast durchweg auf Kollektivbasis. Die Risikoprüfung ist deutlich vereinfacht. Mitarbeiter mit kleineren Gesundheitsbeeinträchtigungen können auf diese Weise bezahlbaren Versicherungsschutz erhalten, welchen sie andernorts nicht oder nur gegen hohe Aufschläge bekommen würden.
Gehen die Versicherer hier nicht zu hohe Risiken ein?
Nein. Bei den Risikoprüfungen achten wir streng darauf, dass wir uns keine vorhandenen BU- oder Pflegefälle in die Bücher nehmen. Am Ende muss die Mischung und Streuung passen. Die entscheidende Kennzahl ist dabei die Größe des Betriebs: Den weitestgehenden Verzicht auf Risikoprüfung gibt es erst ab 100 Beschäftigen. Aber bereits Firmen ab 20 Mitarbeitern haben Zugang zu kollektiven Tarifen.
Michael Kurtenbach, Jahrgang 1963, ist seit 2003 Mitglied der Vorstände des Gothaer Konzerns, seit Frühjahr 2008 Vorstandsvorsitzender der Gothaer Krankenversicherung AG und seit eineinhalb Jahren zusätzlich Vorstandsvorsitzender der Gothaer Lebensversicherung AG.
Der Gothaer Konzern gehört mit mehr als 3,5 Mio. Mitgliedern und Beitragseinnahmen von rund 4,5 Milliarden Euro zu den großen deutschen Versicherungskonzernen und ist einer der größten Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit in Deutschland.