Die Mehrheit der Ratgeber zu dem Thema fokussiert daher auf Erb- und Steuerrecht. Doch beide zugegebenermaßen notwendigen Regulierungsinstrumente leisten zwei Dinge nicht: Sie leiten weder bei der inhaltlichen Gestaltung des „letzten Willens“, noch verhindern sie die häufigen Erbstreitigkeiten. Ein „gutes“ Vererben ist nur dann möglich, wenn man sich über die Inhalte, den Prozess und die Wahrnehmung der Übertragung von ideellen und materiellen Werten auf die nächste Generation bewusst Gedanken gemacht hat.
Der Prozess des Vererbens beginnt viel früher, als die meisten Menschen denken. Kleine Geschenke, immaterielle Hilfeleistungen und die Vermittlung von Idealen und Ideen passieren im Verlauf des Lebens und haben eine Auswirkung darauf, wie das letztendliche Testament durch die Erben interpretiert wird. Selbst Familien mit Einzelkindern sind von Erbkonflikten nicht frei. Stirbt ein Elternteil früh, findet das hinterbliebene Elternteil eine/n neuen Partner, so drohen Aufteilungskonflikte zwischen „alter“ und „neuer“ Familie. Patchworkfamilien, Scheidungen, aber auch Singles, machen die jeweiligen Vermächtnisse nicht einfacher. Wer bekommt was, was will man mit seinem Erbe erreichen? Diese Fragen sind existentielle und auch nicht an bestimmte materielle Werte gekoppelt. Die Frage nach der Gestaltung orientiert sich also an den jeweiligen persönlichen Umständen, ihrem Veränderungspotential, und den individuellen Werten und Normen. Hierüber muss man sich bewusst werden, und dies geschieht auch nicht an einem Sonntagnachmittag.
Absolute Gerechtigkeit gibt es nicht
Der Erbprozess ist von einigen Annahmen überschattet, die sich leider in den wenigsten Fällen als zu Recht herausstellen. Wer im Vererben absolute Gerechtigkeit sucht, befindet sich auf einem steinigen Weg. Was in einem Moment als gerecht aussieht (z.B. alle bekommen denselben Anteil), kann unter anderen Vorzeichen plötzlich als ungerecht empfunden werden (z.B. ein Erbe hat den Erblasser gepflegt, oder einer ist viel Ärmer als alle anderen Erben). Auch zeitliche Veränderungen können ursprünglich „gerechte“ Modelle zum Kippen bringen. Die Wiese, als Ausgleich für das Bauland für das Einfamilienhaus, kann plötzlich Industriegebiet werden, und im einen vielfachen Wert erzielen. Wer hier nach Ausgleich ruft, lädt den Konflikt ein, wenn der Ausgleich nicht einfach geleistet werden kann. Mit anderen Worten, selbst bei buchhalterischer Planung sind solche Konflikte nicht auszuschließen, aber im Dialog lösbar, wenn die Motive des Erblassers bekannt sind. Neben der Gerechtigkeit treten im Erbkontext noch eine Reihe anderer Motive in den Vordergrund. Beispielsweise können Macht, Angst, Versorgungsmotive einen starken Einfluss auf die Erbgestaltung ausüben. Keines dieser Motive ist schlecht, sie haben alle ihre individuelle Berechtigung, nur sie müssen bewusst eingesetzt und vermittelt werden.
Kommunikation statt Tabu
Über Vererben, den Tod und das Testament spricht es sich nicht so einfach. Es ist ein Tabu und wer darüber spricht, wird oft missverstanden oder als Erbschleicher abgetan. Andererseits kommt das Thema sprichwörtlich dann doch zwischen Hauptgericht und Kuchen bei Omas Geburtstag auf den Tisch. Ungeplante Gespräche müssen jedoch fast immer Scheitern, denn fast niemand kann zu dem Thema aus dem Stegreif eine Meinung haben. Das erfordert eine innere Auseinandersetzung und auf Seiten des Erblassers auch eine Vorausplanung: Um was soll es gehen, wo können Konflikte liegen und letztendlich auch Antworten auf die Frage, wer bekommt was? So ein Erbengespräch ist keine einmalige Interaktion, sondern stellt den Beginn einer innerfamiliären Auseinandersetzung dar und kann sich über längere Zeit hinziehen. Auch ist es in der Vorbereitung notwendig, sich mit Freunden auszutauschen und so Alternativen kennen zu lernen. Weiterhin ist natürlich auch gute Beratung notwendig, die über rein rechtliche und steuerliche Aspekte hinausgehen muss.
Beratungsdefizite abbauen
Bankberater, Steuerberater, Rechtsanwälte, aber auch Pfarrer und Psychologen sind gefordert, auf diesem Themengebiet den Menschen durchdachte Beratung und Antworten auf ihre Fragen anzubieten, oder das Thema anzusprechen, wenn es verdrängt wird. Es kann aber nicht nur darum gehen, rechtliche und steuerliche Aspekte in den Vordergrund zu stellen. Diese sind allein Instrumente zur korrekten Umsetzung. Wer sich für eine bestimmte Erbaufteilung bewusst entschieden hat, weil sie in der Familie als gut oder gerecht empfunden wird, der muss unter Umständen dafür einen steuerlichen Preis bezahlen. Aber diese „Verluste“ sind es wert, wenn so Erbkonflikte vermieden werden können, und in der Familie Frieden herrscht. Kurzfristige Orientierung auf das Erbsteuerrecht verhindert solche langfristigen Lösungen. Diese Beratungskompetenz, mit anderen Worten anderen Menschen die Freiheit zu ermöglichen, ihren letzten Willen so zu gestalten wie es für sie selbst und die Hinterbliebenen gut ist, ist eine große Herausforderung, die mit speziellem Kompetenzerwerb zu meistern ist.
Deutschland wird in den nächsten Jahren zu einer Erbengesellschaft. Die Nachkriegsgeneration kann zum ersten Mal substantielle Vermögen auf ihre Nachkommen übertragen. Wenn sich die Gesellschaft auf die Herausforderung nicht vorbereitet, dann drohen tiefgreifende Familienstreitigkeiten und große materielle Verluste, die vermeidbar sind. Dafür müssen wir das Tabu des offenen Dialogs über das Vererben überwinden.
Von Hubertus und Kai Jonas ist im Oktober 2012 der erste psychologische Ratgeber zur Erbgestaltung erschienen: „Konfliktfrei vererben“. Ein Ratgeber für eine verantwortungsbewusste Erbgestaltung.
Ich finde es wichtig über das Erbe zu sprechen und sich schon gemeinsam Gedanken zu machen. Als meine Eltern beide verstorben sind, war es ein drunter und drüber. Es gab einiges an Unzufriedenheit bei den Erbenden. Daher haben mein Mann und ich besprochen, dass wir das anders mache wollen. Also ein Tabu sollte es auf keinen Fall sein.