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Creditreform

Die deutsche Wirtschaftselite kommuniziert nicht professionell. Früher kam man damit durch, künftig nicht mehr

Juristen nutzen den interessanten Begriff des „Teilschweigens“. Er beschreibt, dass ein Angeklagter nur zu bestimmten Themen Stellung nimmt, zu anderen, für ihn unangenehmen, aber jede Antwort verweigert. Weil dieses Verhalten die Wahrheitsfindung erschwert, wirkt es sich bei einer Verurteilung auf das Strafmaß aus. Der Angeklagte kann dann nicht mit Nachsicht rechnen. Auch viele Unternehmen wollen wichtige Themen ausklammern, die mit ihrem Geschäftsmodell, ihren Produkten und Dienstleistungen zu tun haben. Das ist ihnen in der Vergangenheit häufig recht gut gelungen. Aber die Welt hat sich durch die digitale Transformation grundlegend gewandelt.

Einmal habe ich einen Molkereiprodukte-Hersteller beraten. Das Unternehmen wollte etwas für sein Image tun. Dem Geschäftsführer riet ich u.a. zu einigen Gesprächen mit überregionalen Medien. Dabei hätte er neue Entwicklungen und Besonderheiten seiner Firma sowie deren Qualitätsphilosophie darlegen können. Um ihn darauf vorzubereiten, fragte ich ihn auch nach den Inhaltsstoffen der Produkte, nach Aromen, Farbstoffen, Konservierungsmitteln, Zucker – und nach der Herkunft und den Produktionsbedingungen der verarbeiteten Früchte und Körner, die in die Puddings, Müslis und Joghurts gemischt werden. „Zu all diesen Fragen werde ich nichts sagen“, stellte der Geschäftsführer klar.  Diese Art des Teilschweigens ist in der deutschen Wirtschaft weit verbreitet, sie wird von etlichen Anspruchsgruppen zu Recht kritisiert. Der teilschweigende Hersteller kann keine Strafminderung bei dem Urteil der Bürger erwarten.

Natürlich bietet jede Organisation ihren Kritikern eine oder mehrere offene Flanken. Manche Branchen haben sogar ideologische Feinde, die danach streben, die nicht zu ihrer Weltsicht passenden Unternehmen auszulöschen. Beispielsweise haben sich diverse militante Initiativen zum Ziel gesetzt, die  konventionelle Landwirtschaft und hier besonders die Tierzüchter, die Aufzuchtbetriebe, die Schlachthöfe und die Vermarkter in den Ruin zu treiben. Diese Aktivisten brechen gleichsam gewerbsmäßig in möglichst viele Ställe ein, um irgendwo einen möglichen Gesetzesverstoß geißeln zu können. Dabei setzen sie geschickt die Ikonographie von Bildern ein. Und etliche Medien – immer auf der Suche nach einem scheinbaren Skandal – springen mit Genuss über die Stöckchen, die ihnen von den radikalen Fleischgegnern hingehalten werden.

Die Nahrungsmittelhersteller und die Landwirtschaftsverbände haben bislang kein Mittel gefunden, um die Wirkung der Kampagnen zu mindern. Die Branche steht am Pranger, obwohl die Qualität und die Sicherheit der Produkte in den zurückliegenden Jahrzehnten besser geworden und die Preise in Relation zum Haushaltsvermögen vielfach sogar gesunken sind. Mitunter erscheinen die Aktivitäten militanter Pressure Groups moralisch durchaus gerechtfertigt, wenn beispielsweise tatsächlich ein Missstand dokumentiert und behoben wird. Aber ganze Branchen unterliegen inzwischen einem Generalverdacht. Die Beschäftigten müssen sich in ihrem persönlichen Umfeld rechtfertigen, sie werden gemieden, manche erhalten Morddrohungen, andere stehen vor den Trümmern ihrer wirtschaftlichen Existenz. Aber kaum ein Manager aus der Nahrungsmittelherstellung und der Landwirtschaft traut sich in die Talkshows des Fernsehens oder steht öffentlich Rede und Antwort und tritt für seine Industrie ein, erklärt sie und beschreibt seine persönlichen Erfahrungen.

Wer die Medien hat, hat die Meinungshoheit – und damit die Macht. Das wissen auch die großen Unternehmen. Sie versuchen, ihre Marken zu Medien zu machen. Red Bull und Coca Cola führen vor, wie es geht. Shell produziert Fernsehdokumentationen über die Dramatik von Großprojekten wie den Bau, Transport und Betrieb von Ölbohrinseln in schwerer See. Die Dokumentationen mit den wackeren ShellEinsatzkräften laufen dann in den Fernsehprogrammen der Welt. Shell hat ein Verständnis für die Bedeutung von Symbolen gewonnen, weil, wie ein Sprecher sagte, das Unternehmen irgendwann „erkannt hat, dass Greenpeace die besseren Bilder hatte“.

Shell erzählt Geschichten von heldenhaften Beschäftigten

Aber selbst Red Bull und Coca Cola kommunizieren noch vornehmlich über ihre Marken, Shell zusätzlich mit heldenhaften Beschäftigten. Die Deutschlandchefs der drei Firmen sind kaum bekannt. Die Performance der Geschäftsführer könnte die Marketingaktivitäten flankieren.

Ganze Industriezweige in Deutschland missachten die Möglichkeiten des Reputationsaufbaus mittels der Unternehmenslenker. Weder die Gesundheitsbranche noch der Maschinenbau oder die Chemieindustrie nutzen die Chancen, ihre Vorstandsvorsitzenden als kompetente Repräsentanten ihrer Unternehmen auftreten zu lassen. Die Automobilindustrie tut das zwar besser, aber sie stellt sich nicht glaubwürdig den Herausforderungen der Zukunft, sondern setzt weiterhin auf zu schwere und zu teure PS-Panzer mit dem Verbrennerprinzip aus dem 19. Jahrhundert. Ihre Bilderwelt ist geprägt von ihren polierten Produkten mit der strukturell veralteten Technik. Das ist eine dem Moment verhaftete Margenpolitik, die weder als zukunftsweisend noch als problembewusst vermittelt werden kann. Kein einziger Automanager aus Deutschland kann dem glänzenden Image von Elon Musk, dem Gründer von Tesla, Paroli bieten. Keiner von ihnen steht für einen modernen Kurs in Richtung nachhaltiger Antriebe. Man könnte den Eindruck gewinnen, die Manager trauten sich angesichts ihres schlechten Gewissens wegen des Profitmaximierens mit stinkenden Verbrennerboliden nicht mehr recht, in der Öffentlichkeit unbequeme Fragen zu beantworten.

Der Kopf einer Organisation ragt wie ein Leuchtturm aus dem Meer der Beschäftigten heraus. Er repräsentiert sein Unternehmen wie sonst niemand. Wenn er tatsächlich weithin sichtbar ist und ein helles Licht aussendet, bewirkt er damit einen Imagetransfer auf alle Produkte, Marken, Dienstleistungen, Werte und Menschen seines Betriebes. Aber welcher deutsche Manager tut das vorbildlich? Wie heißen die Vorstandsvorsitzenden der Dax-Unternehmen? Wer in der Fußgängerzone eine Zufallsstichprobe macht, wird erschrocken sein, wie schlecht die CEOs im Bewusstsein der Bürger positioniert sind.  Offenbar trauen sich die Unternehmenslenker nicht, ihre Firmen mit ihrem Namen und Gesicht, mit ihren Schwächen und Unsicherheiten zu vertreten. Um lästige Pflichtveranstaltungen wie Hauptversammlungen und Bilanzpressekonferenzen können sie sich nicht drücken. Aber sonst wird der Kontakt zur Öffentlichkeit vielerorts gemieden – z.B. aus Angst, bei Auftritten unabsichtlich etwas Justiziables oder Aktienkursrelevantes zu sagen, was rechtlich angreifbar wäre.

Die Amerikaner haben hier einen Kulturvorteil: Sie wollen sich darstellen. Sie lieben es, vor Publikum zu performen und sich selbst, ihre Produkte, Marken, Erfolge, Besonderheiten zu präsentieren. Sie sehen das als grandiose Möglichkeit, Marketingkosten einzusparen und eine große Aufmerksamkeit mittels glaubwürdiger Medienberichterstattung zu erzielen.

Amerikanische Organisationen legen deshalb besonderen Wert auf ein umfassendes ThemenManagement. Dabei werden sämtliche Fragen und Vorhalte aller Anspruchsgruppen behandelt – auch und gerade die unangenehmen Bereiche, die die Geschäftsführung eigentlich nicht kommunizieren will. Aber was tun, wenn die Themen öffentlich diskutiert werden, wenn Initiativen, Mitarbeiter, Politiker, Kunden, Medien und andere Gruppen diese Fragen plötzlich stellen? Teilschweigen ist dann allenfalls die zweitbeste Lösung. Denn das Ansehen der Organisation wird sinken, wenn sie den Kopf in den Sand steckt und hofft, der Kelch werde irgendwie vorüber gehen. Hier sei an das erste Axiom des Philosophen Paul Watzlawick erinnert: Man kann nicht nicht kommunizieren.

Welcher Vorstandsvorsitzende diskutiert im Fernsehen vor Millionen Zuschauern mit Politikern, Kirchen- und Gewerkschaftsvertretern, mit Umweltaktivisten, Wissenschaftlern und Publizisten? Welcher deutsche Manager hat einen eigenen Blog, den er regelmäßig selbst nutzt, um über sich und sein Unternehmen für die Interessierten und Eingeweihten zu informieren und seine Meinung zu sagen? Und welcher Vorstandsvorsitzende geht aktiv auf seine Mitarbeiter zu, unterhält sich mit ihnen, arbeitet mal mit ihnen, nimmt deren Perspektiven ein und hört ihnen aktiv zu? Die das tun, sind rare Exemplare.

Immer die gleichen Wirtschaftsvertreter sind in den Talkshows des deutschen Fernsehens vertreten: Stefan Genth vom Handelsverband HDE, Mathias Wissmann vom Automobilverband VDA, Dirk Rossmann von der gleichnamigen Drogeriekette und Wolfgang Grupp, Inhaber des deutschen Textilherstellers Trigema. Viel häufiger als Wirtschaftsvertreter sitzen und reden in den Sendungen Showstars, Schauspieler und Fernsehquizmaster miteinander, die mitunter finden, eine flotte Meinung zur Unternehmenswelt sei attraktiver als eine solide Kenntnis.

Kurzum: Die Geschäftsführer deutscher Firmen betrachten die interne und externe Kommunikation noch nicht als Managementdisziplin. Schon im Organigramm der meisten Unternehmen ist die Wertschätzung dafür abzulesen: Wenn das Reputationsmanagement und die strategische Kommunikation unter dem veralteten und negativ besetzten Kürzel „PR“ irgendwo unterhalb der Marketingleitung subsumiert wird, ist der Betrieb in einer Krisensituation schlecht aufgestellt. Denn Marketingleiter haben meist keine Erfahrungen mit Krisenvorbeugung und -management und keine Lust darauf. So etwas gehörte lange Zeit nicht zu den Inhalten der Betriebswirtschafts- und Marketing-Studiengänge. Das Brevier der Marketingverantwortlichen sind kurzfristige Kampagnen, gekaufter Raum, Werbung, Aktionen am Verkaufsort und im Internet sowie vielfältige Veranstaltungen.

Statt Lösungen für Komplexität sind Lösungen für Veränderungen gefragt

Unternehmen werden aber nicht durch die Eigentümerstrukturen oder durch Befehlshaber zusammen gehalten. Sondern durch Informationen, durch Kommunikation und Führung. Während sich das klassische Management eher mit Lösungen für Komplexität beschäftigt, kümmert sich Menschenführung um Lösungen für Veränderungen. Entscheidungskraft reicht nicht mehr aus, um eine Firma zukunftssicher zu machen. Hinzukommen muss heute mehr denn je eine Kompetenz in Menschenführung. Aber viele Organisationen in Deutschland – nicht nur Unternehmen – sind gewissermaßen über-kommandiert und unter-führt.

Dabei war es noch nie so wichtig, sich auf schnelle Wechsel von Ansprüchen, Produkten, Meinungen, Märkten und Techniken einzustellen wie heute. Was gestern gemacht wurde, ein wenig weiter zu optimieren, reicht nicht mehr aus. Heute sind in vielen Branchen und Märkten so genannte disruptive Lösungen nötig. In vielen Branchen geht es darum, nicht mehr das Alte zu optimieren, sondern das Neue zu wagen. Damit der Wandel von Geschäftsmodellen, Produktionsbedingungen und Markenpositionierungen verstanden, verinnerlicht und gelebt wird, sind eine professionelle interne und externe Kommunikation essenziell.

Ein entscheidender Faktor für wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen ist der beständige Dialog mit den Beschäftigten und allen anderen Anspruchsgruppen. Die besten Firmenlenker haben verstanden, dass Kommunikation und das mit ihr verbundene Feilen an der Reputation Erfolgsfaktoren und Managementaufgaben sind.

Übrigens habe ich den Geschäftsführer des Molkereiprodukte-Unternehmens nicht mehr lange beraten. Unsere Vorstellungen von Authentizität, Nachhaltigkeit und Reputationsmanagement lagen zu weit auseinander. Wenige Monate später erfuhr ich, dass er aus dem Unternehmen ausgeschieden war.

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