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Herr Lütz, die Liste Ihrer haupt- und ehrenamtlichen Tätigkeiten ist lang. Bleibt da eigentlich noch Zeit, den Augenblick zu genießen?

Es ist gar nicht so schlimm mit diesen Tätigkeiten, das sind oft nur wenige Termine im Jahr. Und um den Augenblick zu genießen, braucht man gar nicht unbedingt viel Zeit, sondern die Aufmerksamkeit auf die Unwiederholbarkeit jedes Moments.

Der Markt der ratgebenden Veröffentlichungen ist sehr groß, vielleicht sogar zu groß, oder?

Es wird viel zu viel veröffentlicht, und ich lese langsam. Daher habe ich mir immer schon geschworen: Ich schreibe nur Bücher, von denen ich meine, dass die Menschen davon wirklich etwas haben. Und dafür gehe ich dann auch engagiert in die Öffentlichkeit.

Sie sprechen in ihrem neuesten Buch „Bluff“ von einer Fälschung der Welt – eine kühne These. Zeigen Sie dem Leser in Ihrem Buch Wege auf, wie er der falschen Welt entkommen kann und seine Zeit nicht verplempert?

Genau darum geht es in dem Buch. Eigentlich fand ich den Titel etwas zu reißerisch. Mich ärgert, dass alle zwei Wochen irgendein Buch erscheint, das den definitiven Untergang des Abendlands ankündigt. Doch wenn es wirklich so wäre, dass die Gefahr besteht, dass Menschen aus Versehen ihr kurzes unwiederholbares Leben verpassen und ihnen erst auf dem Sterbebett klar wird, dass sie eigentlich kaum wirklich selbst gelebt haben, dann ist das wirklich dramatisch. Deswegen habe ich den Titel so gelassen.

Was braucht man, um wirklich zu leben? Ist dies überhaupt möglich?

Klar und sogar ziemlich einfach. Aber man darf die künstlichen Welten, in denen wir unvermeidlich leben, die Wissenschaftswelt, die Psychowelt, die Medienwelt, die Finanzwelt, nicht für realer halten als das eigene existenzielle Leben. Wer die Tagesschau für wirklicher hält als die Tränen der eigenen Tochter, der lebt in einer falschen Welt.

Wie sieht das in Ihrem Leben aus?

Ich behaupte nicht, selber alles schon perfekt zu machen. Auch ich hänge mal vor der Glotze ab und lebe natürlich auch in jenen künstlichen Welten, aber ich versuche immer wieder, wenigstens für kurze Zeit auszusteigen. Und dazu versuche ich durch das Buch auch andere zu ermutigen.

Sie beklagen auch den Jugendwahn und die materielle Orientierung der Menschen. Ist aus Ihrer Sicht noch ein Umdenken möglich?

Ich beklage eigentlich nichts und finde Jammerbücher mühsam. Das Buch macht auf unterhaltsame Weise aufmerksam auf alle möglichen Anleitungen zum Unglücklich sein. Schon die alten Griechen wussten, dass eine Gesellschaft, die die Jugend ehrt, eine unglückliche Gesellschaft ist, denn da schaut schon der 16-Jährige ins Dunkel seiner Lebenszukunft.

Hilft da auch der Glaube an Gott?

Das Buch ist für Atheisten und für Gläubige geschrieben, denn beide haben ja dasselbe Problem: Dadurch dass wir alle sterben, ist jeder Moment unwiederholbar und im Grunde unendlich kostbar.

Was können Manager von der Theologie lernen?

Von der Theologie wahrscheinlich kaum etwas, aber von christlicher Spiritualität eine ganze Menge.

Das Krankenhaus, in dem Sie arbeiten, ist in einem alten Kloster untergebracht. Animiert Sie dieser Arbeitsplatz mitunter zu Auszeiten in einem Kloster?

Das ist nicht ganz richtig. Die Alexianer Brüder sind ein sozial tätiger Orden. Lange vor den Ärzten haben sie schon vor Jahrhunderten erkannt, dass die so genannten „Irren“ kranke Menschen waren, die Hilfe brauchten. Und so nahmen sie sie in ihre Häuser auf, sorgten für sie und gaben ihnen Arbeit. Es gab nicht erst ein Kloster, in dem dann Kranke untergebracht wurden. Vielmehr bauten die Alexianer vor 100 Jahren bei uns ein Haus für psychisch kranke Menschen, in dem sie mit ihnen lebten. Für die Patienten, auch für atheistische, ist es oft erholsam, mal in die Kapelle zu gehen und da zur Ruhe zu kommen. Ich selber komme leider kaum dazu.

Wie finden Sie als Autor Ihre Themen, und was muss ein Thema mitbringen, damit Sie ihm ein ganzes Buch widmen?

Ich muss mich für ein Thema begeistern, das mir auf der Seele brennt, und ich muss zur Überzeugung kommen, das ist etwas, was jeden wirklich angeht. Und ich glaube wirklich, dass mein Buch „Bluff“ vom Taxifahrer bis zum Bankdirektor jeden betrifft und dass jeder, der es liest, anschließend anders lebt, wenigstens ein bisschen anders. Insofern ist das Buch sozusagen lebensrettend. Natürlich nicht im körperlichen Sinne. Aber was hat man schon davon, wenn man mit stabilem Blutdruck und guten Laborwerten sein Leben verplempert.

Seit über 30 Jahren betreuen Sie eine integrative Gruppe von behinderten und nichtbehinderten Jugendlichen. Wie kam es zur Gründung und Weiterführung?

Die Gruppe ist eigentlich ein Betriebsunfall. Im „Jahr der Behinderten“ 1981 fuhr eine Gruppe behinderter und nichtbehinderter Jugendlicher ohne professionelle Betreuer aus Bonn nach Rom. Da ich damals in Rom studierte, habe ich da ein bisschen geholfen. Eigentlich sollte das eine einmalige Sache sein – anschließend Dias anschauen und Ende. Doch die Fahrt war für alle Beteiligten so eindrucksvoll, dass die einfach zusammenbleiben wollten. In dieser Gruppe habe ich übrigens gelernt, dass man auch über Behinderte lachen darf, denn wenn die manchmal witziger sind als wir Normopathen, dann haben die auch ein Recht auf unser herzliches Lachen. Das hat mich auch ermutigt, mein letztes Buch „Irre – Wir behandeln die Falschen. Unser Problem sind die Normalen“ zu schreiben. Das ist im Grunde eine Einführung in die Psychiatrie und Psychotherapie, alle Diagnosen, alle Therapien allgemeinverständlich und eben auch unterhaltsam.

Sie handeln nach dem Motto „Nimm das Leben leicht und mach Kabarett daraus“. Wenn man Sie sieht, hört oder liest hat man den Eindruck, dass Ihnen das auch ganz gut gelingt. Wie erzeugen Sie diese Leichtigkeit? Kann das jeder Mensch schaffen?

Na ja, man kann sicher aus keinem Leben Kabarett machen. Jeder von uns erlebt bedrückende Phasen, und das ist gar nicht lustig. Dauerlächelnde Sektenanhänger und dauerlachende Profiwitzbolde sind mir ein Graus. Aber sicher kann man mit Humor etwas leichter leben. Dass Humor aber lernbar ist, halte ich für ein Gerücht.

Die Fragen stellte Marie-José Kann-Hüting

Manfred Lütz studierte in Bonn und Rom Medizin, Philosophie und Theologie. Er ist Psychiater, Psychotherapeut, Diplomtheologe und leitet seit 1997 das Alexianer-Krankenhaus in Köln. Lütz schrieb mehrere Bestseller, wie beispielsweise „Lebenslust“, in dem er sich zu Diäten und dem Gesundheits- und Fitness-Wahn äußert. Er ist Mitglied des Päpstlichen Rates für die Laien, Mitglied der Päpstlichen Akademie für das Leben und Berater der Vatikanischen Kleruskongregation sowie Dozent an mehreren Akademien und Instituten. Darüber hinaus ist er ein gefragter Vortragsredner und Kabarettist.