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Erinnert sich noch jemand an den großen Lean-Hype in den 1990er Jahren? Lean galt damals als Heilmittel für die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft. Heerscharen von Managern pilgerten zu Lean-Vorbildern wie Toyota und kamen mit vielen Ideen zurück. Leider wurde Lean damals auf Aspekte wie Kanban, 5S oder TPM reduziert. Die Folge: Die Unternehmen kratzten nur an der Oberfläche und erzielten enttäuschende Ergebnisse. So ähnlich geht es heute dem Buzzword Agilität. Viele Vorreiter aus dem Silicon Valley verdanken einen Teil ihres Erfolgs dem agilen Arbeiten. Doch auch hier ist ein eingeschränkter Blick zu erkennen. Methoden und Ansätze wie Scrum, Scrumban, Large Scale Scrum (LeSS) und andere werden isoliert eingesetzt. Viele Unternehmen kratzen auch hier wieder nur an der methodischen Oberfläche.

Was im Hype untergeht: Agilität ist ein systemischer Ansatz, der auf den Prinzipien von Lean aufsetzt. Im Zusammenspiel mit anderen Faktoren wie Prozessen, Strukturen, Führungssystemen, unterstützenden Infrastrukturen und neuen Methoden bewirkt er eine Unternehmenskultur, die zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit vieler Unternehmen führen kann. Der agile Ansatz ermöglicht es den Unternehmen, mit Unsicherheiten und Dynamik umzugehen, sowie wachsende Komplexität handhabbar zu machen.

Agilität muss unternehmensspezifisch umgesetzt werden

Die Umsetzung sollte dabei unternehmensspezifisch geschehen, damit die Organisation in der Lage ist, sich an ständig wechselnde Rahmen- und Marktbedingungen anzupassen. Dies ist einst erfolgreichen Branchenführern wie Nokia, Eastman Kodak, Sears oder auch heimischen Unternehmen wie Schlecker oder Arcandor nicht gelungen. Sie haben die veränderten Marktanforderungen zu spät oder gar nicht erkannt. Die Folge war eine Fehlinvestition in Milliardenhöhe. Darüber hinaus vernachlässigten sie ihre Produkte, so dass sie keinen Kundennutzen mehr stiften konnten. Am Ende standen Bedeutungsverlust oder Insolvenz.

Zum Autor:

Willhelm Goschy ist Vorstand der Staufen AG. Seine Beratungsschwerpunkte liegen auf wertstromorientierten Fabrikkonzepten, der Implementierung von Wertschöpfungssystemen und dem Coaching von Führungskräften. Goschy studierte Betriebswirtschaftslehre in Deutschland und Großbritannien. Bei der Dr. Ing. h.c. Porsche AG sammelte er anschließend in der Funktion als Projektcontroller und Projektleiter profunde Kenntnisse in Fertigung und Montage. Seit 1999 in der Unternehmensberatung Staufen entwickelte Wilhelm Goschy als Senior Partner und Business Unit Leiter Führungskräfte, leitete Großprojekte, konzipierte die Ausbildung von Lean Experten und ist heute unter anderem verantwortlich für die Entwicklung des internationalen Beratungsgeschäfts.
www.staufen.ag

Strukturen, Prozesse und Führungskultur stehen im Zentrum

Anpassungsfähigkeit ist kein Selbstzweck. Sie sichert langfristig das Überleben in einer komplexen, dynamischen Umgebung. Dies bedeutet aber nicht, dass jede Organisation vollständig agil werden muss. Stattdessen ist der Kontext entscheidend. Bei gut vorhersehbaren, stark repetitiven Abläufen und Veränderungen wäre Agilität Verschwendung. Hinzu kommt: Die Organisation muss nicht unbedingt zur Gänze agil werden. Es ist auch möglich, dass lediglich einige Fachbereiche innerhalb des Unternehmens agil werden und andere nicht. Trotzdem ist das Unternehmen dann in Summe anpassungsfähig.

Im Fokus der Agilität stehen also die Strukturen innerhalb einer Organisation. Dabei sollte der Reifegrad des Organisationsteils im Hinblick auf Handlungsfelder wie Strukturen, Prozesse und Führungskultur evaluiert werden. Wichtig ist auch eine Kontextanalyse des organisatorischen Umfelds. Das Management kann erst dann einen sinnvollen organisatorischen Entwicklungspfad definieren, wenn klar ist, wo das Unternehmen überhaupt steht. Ein solider Ausgangspunkt für den Einstieg in die agile Organisation ist die Ausrichtung an den Führungsprinzipien des Lean Managements: Entscheidungen werden so nah wie möglich am Wertstrom getroffen.

Lean und Agil sind verwandte Konzepte

Agilität baut sehr stark auf den Prinzipien von Lean Management auf. Für beide Konzepte ist die Ausrichtung auf den Kunden wichtig, die Orientierung an starken und schlanken Prozessen sowie das durchgängige Denken in Kunde-zu-Kunde-Prozessen. Dabei werden auch interne Strukturen als Kundenbeziehung gedacht, und es wird entsprechend gehandelt. Ebenso wichtig sind bei beiden Konzepten die Befähigung der Mitarbeiter die Verantwortung an den Wertstrom zu übergeben.

Doch es gibt auch Unterschiede zwischen Lean und Agilität. Der wichtigste Nutzen einer agilen Organisation ist, dass diese ein sich selbst veränderndes und reflektierendes System darstellt. Diese Beschreibung wirkt auf den ersten Blick abstrakt, ist aber im Grunde nicht weit entfernt vom Bild einer Wertstromorganisation. Auch in agilen Organisationen werden Entscheidungsfindung und Umsetzung so nah wie möglich an den Wertstrom gebracht. Der Unterschied: In der Wertstromorganisation entscheiden letztendlich die Führungskräfte. In der agilen Organisation hat die Führungskraft jedoch eine eher dienende Funktion („Enabler“), die das System unterstützt, die Entscheidung aber nicht selbst trifft.

Fazit: Unternehmenskultur bewirkt „Being agile“

Angesichts dieser Überlegungen sollte Agilität nicht auf Methoden wie Scrum oder Scrumban reduziert werden. Unternehmen sollten aus der Lean Transformation lernen und den Blick auf das Ganze im Sinne eines systemischen Ansatzes richten. Agile Arbeitsweisen und Methoden unterstützen sie dabei auf ihrer Reise zu „doing agile“. Doch für eine agile Unternehmenskultur, für „being agile“, ist mehr notwendig. Entscheidend ist eine Führungskultur, die Selbstführung in den Vordergrund stellt sowie bei allen Mitarbeitern und Führungskräften ein Wandel in Mindset und Haltung. Die Unternehmenskultur ist der wichtigste Meilenstein auf der Reise in Richtung Agilität, denn Haltung schlägt immer die Methode.