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Creditreform

Sollte die EU in den Brexit-Verhandlungen eine eher harte Linie verfolgen oder dem austretenden Mitglied weiterhin komfortable Bedingungen einräumen, etwa den Zugang zum Binnenmarkt ohne Freizügigkeit? Manche Ökonomen plädieren für Letzteres, da gerade Deutschland vom Handel mit den Briten profitiert. Doch beim Brexit geht es um viel mehr als einen großen Exportmarkt.

Mit den vom Europäischen Rat Ende April fixierten Grundsätzen für die Brexit-Verhandlungen ist klar, dass sich die 27 verbleibenden Mitglieder der Union in dieser Frage nicht auseinander dividieren lassen. Nüchtern und ohne Bestrafungsattitüde entwickelte Ratspräsident Tusk die aus EU-Sicht sinnvollen Grundsätze. Dabei ist der Brexit vor allem ein britisches Problem. Das Referendum war durch interne Konflikte der Torys motiviert, das Ergebnis vor allem mit populistischen Falschaussagen erkämpft. Dabei mag die zu britischem Habitus gehörende grundsätzliche EU-Kritik ebenso wie die Zweifel an der Flüchtlingspolitik mitgewirkt haben. Bedeutsamer waren aber die wirtschaftlichen Ungleichgewichte, die das Vereinigte Königreich prägen, mit der Dominanz des Großraums London.

Sosehr der Verlust der zweitgrößten Volkswirtschaft der Union schmerzt, ein Untergang der europäischen Idee ist damit ebenso wenig verbunden wie ein ökonomisches oder politisches Desaster für Deutschland. Natürlich hat der Brexit gewaltige Folgen für die EU – aber er eröffnet sogar Chancen, etwa für eine EU-Verteidigungsgemeinschaft, die bislang von den Briten verhindert wurde. Das White Paper der Kommission zeigt realistische Szenarien für die weitere Gestaltung der Union auf. Vom großen Sprung in die „Vereinigten Staaten von Europa“ ist dort nichts zu lesen. Es werden Optionen skizziert, die dem Subsidiaritätsprinzip und der Konzentration auf das Wesentliche (Effektivität und Effizienz) ebenso Raum geben wie einem Europa unterschiedlicher Geschwindigkeiten. Von einem Brüsseler Diktat keine Spur. Ebenso wenig gibt das Papier Anlass für Verschwörungstheorien, welche die EU französisch dominiert sehen.

Da das Königreich das drittwichtigste Zielland deutscher Exporte ist sowie Briten und Deutsche manche wirtschaftspolitische Sichtweise teilen, stellt sich die Frage nach der deutschen Position in den Brexit-Verhandlungen. Vorschläge, Deutschland solle sich für die britische Forderung nach vollem Zugang zum Binnenmarkt ohne Arbeitnehmer-Freizügigkeit verwenden und daran die Zustimmung für höhere Finanzierungsbeiträge an die EU knüpfen, gehen jedoch fehl. Ein sinnvolles Gestaltungsprinzip für den EU-Finanzrahmen ist damit nicht verbunden, die EU-Verhandlungsposition würde unterminiert. Als trojanisches Pferd der Briten kündigte Deutschland so den Partnern die Solidarität auf. In der Folge würde ein Land nach dem anderen seine Sonderwünsche voranstellen. Und wie glaubwürdig kann die Bundesregierung für die europäische Integration werben, wenn sie durch eine solche Strategie letztlich den Brexit-Populisten Recht gäbe? Damit würde die Chance vertan, ein neues politisches und ökonomisches Gleichgewicht in Europa zu entwickeln.

Die EU darf auch unter ökonomischen Gesichtspunkten nicht auf den Binnenmarkt reduziert werden. Das würde sie in eine instabile Freihandelszone verwandeln, zum Nachteil Deutschlands. Die EU für den Handel mit der Insel zu opfern ist kein gutes Geschäft. Dennoch erfährt diese Position von jenen Zuspruch, die grundsätzliche Zweifel am europäischen Projekt haben, die Kooperationsfähigkeit der Nationalstaaten verneinen und die EU als Instrument der finanziellen Ausbeutung Deutschlands deuten. Indes: Fernab der wirtschaftspolitischen Vorzüge liegt die stärkste Begründung der europäischen Integration in der jahrhundertelangen Geschichte von Krieg und Gewalt. Die Lektion daraus ist, dass Frieden und Freiheit nur durch transnationale Strukturen gesichert werden können.

Trotzdem bleibt es ein Irrtum, dass die europäischen Nationalstaaten verschwinden würden. Das vergisst die Modernisierungsleistung der Nationsbildung für die Ausprägung von Souveränität und Identität sowie für die Gewährung von Freiheit und Sicherheit. Europäische Politik muss diese historische Realität der Nationalstaaten berücksichtigen und ins Positive wenden. Die EU ist ein Club unvorhersehbarer Demokratien, der mit ihren Eigensinnigkeiten umgehen und Unterschiede in der politischen und ökonomischen Entwicklung aushalten muss. Daran gemessen war und ist die europäische Integration erstaunlich erfolgreich und sucht auf der Welt ihresgleichen. Die Vereinigten Staaten befinden sich auf dem Weg in eine Verfassungskrise, China ist gefangen in undemokratischen Strukturen, Russland und die Türkei haben sich als Partner der freien und demokratischen Welt vorerst verabschiedet. Die EU hingegen bleibt Bannerträger freiheitlicher Werte. Das alles ist zu bedenken, wenn die Verhandlungsstrategie der EU für den Brexit festlegt wird. Es geht um mehr als Handelsfragen.