Der Mittelstand wird oft als Rückgrat der europäischen Wirtschaft bezeichnet. In Deutschland stellen kleine und mittlere Unternehmen über 60 Prozent der Beschäftigten, 80 Prozent der Auszubildenden und mehr als 99 Prozent aller Wirtschaftseinheiten. In den anderen EU-Ländern sind diese Anteile nicht etwa kleiner, sondern liegen oft sogar noch über den deutschen – allerdings gerade in den südeuropäischen Staaten mit einem größeren Schwergewicht auf Einzelselbstständigen und Kleinunternehmen, während die größeren Mittelständler im industriellen Bereich eine deutsche Spezialität sind. Warum aber gibt es keine kohärente Politik zur Stärkung des europäischen Mittelstands gibt es in der EU?
Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass der Mittelstandsbegriff mit seinen quantitativen und qualitativen Merkmalen ein deutsches Phänomen darstellt. Quantitativ rechnet man hierzulande Unternehmen dem Mittelstand zu, sofern sie nicht mehr als 500 Beschäftigte aufweisen. Auch dieses Größenkriterium, das höher liegt als von der EU vorgegeben, schließt viele Unternehmen insbesondere in der Industrie aus, die von ihren Strukturen her als familiengeführte Betriebe mit starker regionaler Bindung mittelständisch „ticken“ und qualitativ nicht als Großunternehmen einzuordnen sind.
Die EU zieht die Obergrenze, die die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) von den Großunternehmen trennt, jedoch schon bei 250 Beschäftigten. Diese Schwelle wird der Wirtschaftsstruktur gerade im Verarbeitenden Gewerbe keineswegs gerecht. Ein Großteil der mittelständischen Metallverarbeitungs- und Zulieferbetriebe wird dadurch genauso behandelt wie global aufgestellte Konzerne in der Automobil-, Chemie- oder Elektroindustrie.
Den Kern der europäischen Mittelstandspolitik bildet der „Small Business Act“ (SBA), der 2008 verabschiedet wurde. Wie der Name schon ausdrückt, geht es hierbei vor allem um die Belange von Kleinbetrieben. Für Unternehmensgründer und Kleinunternehmen sollen bürokratische Hürden abgebaut und der Zugang zu Finanzierungen erleichtert werden. Hauptziel ist die Schaffung von KMU-freundlichen Rahmenbedingungen und die Verankerung des „Think small first“-Prinzips in der europäischen Regulierung und in Förderprogrammen. Alle Maßnahmen und Gesetzgebungsvorschläge sollen auf die von ihnen ausgehenden Belastungen für Kleinunternehmen hin überprüft werden. Darüber hinaus stehen der Zugang zu Informationen und Netzwerken, weniger direkte Beihilfen für KMU im Mittelpunkt. Das Umsetzungsprogramm des SBA, COSME (Competitiveness of Small and Medium-sized Enterprises), ist in der laufenden Haushaltsperiode 2014-2020 nur mit 2,5 Milliarden Euro oder ganzen 0,2 Prozent des EU-Budgets unterlegt. Allerdings sind die diversen Förderprogramme der EU wie der Regionalfonds EFRE und – in geringerem Maße – auch das Forschungsförderprogramm Horizont 2020 auf eine vorrangige Förderung von KMU ausgelegt. Ab 250 Mitarbeitern entfällt meist die Förderung oder es gelten sehr viel niedrigere Beihilfesätze.
Die Konzentration des SBA auf Kleinbetriebe und Gründer entspringt nicht einer Laune der EU Kommission, sondern sie entspricht der Wirtschaftsstruktur der Mehrzahl der Mitgliedsländer. Neben Deutschland stellt Großbritannien eine Ausnahme hiervon dar. Das Land verfügt auch über eine nennenswerte Anzahl größerer Mittelständler, allerdings anders als Deutschland vor allem im Dienstleistungssektor, weniger in der Industrie. In Frankreich herrscht hingegen eine spürbare Lücke zwischen den Konzernen und Großunternehmen auf der einen und Kleinbetrieben und kleinen Mittelständlern auf der anderen Seite. Das westliche Nachbarland Deutschlands ist im Bereich des „gehobenen Mittelstands“ – nach quantitativen Kriterien handelt es sich um kleinere Großunternehmen mit mehreren hundert bis mehreren tausend Beschäftigten – schwach aufgestellt. Ganz im Sinne des SBA hat Frankreich in den letzten Jahren Hürden für Gründer und Kleinbetriebe abgebaut, wie der Doing Business Report der Weltbank bestätigt, aber aufgrund fehlender Arbeitsmarktreformen trotzdem keinen Wachstumsimpuls für Unternehmen jenseits des kleinbetrieblichen Segments auslösen können. Nicht besser sieht es in Italien als viertem EU-Schwergewicht aus. Das Land behindert ebenfalls das Wachstum von Unternehmen durch Überregulierung, ist dabei aber gründungsschwächer als Frankreich. Die Reformansätze der Regierung Renzi waren bislang eher zaghaft.
Deutschland setzt sich seit seiner schnellen Erholung von der großen Rezession 2009 positiv von seinen südlichen und westlichen Nachbarn ab und zehrt weiterhin von den Reformen der Agenda 2010. Doch angesichts der seit Jahren rückläufigen Gründungszahlen und der immer noch beträchtlichen Bürokratie für Unternehmensgründer und Kleinbetriebe gibt es auch hierzulande viel zu tun, um dem Small Business Act volle Geltung zu verschaffen. Im E-Government sind für die Interaktion von Staat und Unternehmen noch erhebliche Effizienzpotenziale zu heben und One-Stop-Shops, in denen Gründer alle erforderlichen behördlichen Prozeduren gebündelt abwickeln können, fehlen weiterhin.
Doch so wichtig die Umsetzung der Prinzipien und Leitlinien des SBA auf Ebene der EU und in den Mitgliedsstaaten auch sein mag – für eine europäische Mittelstandspolitik greift er zu kurz. Gerade die vielen Wachstumshemmnisse und Regulierungen, die Unternehmen daran hindern, ihre Potenziale auszunutzen und vom Kleinbetrieb zu mittlerer Größe oder vom Mittelständler zum größeren Unternehmen heranzuwachsen, gilt es in den Blick zu nehmen. Andernfalls dürfte auch das Ziel der EU, bis 2020 den Industrieanteil an der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung von zuletzt nur circa 15 Prozent wieder in Richtung 20 Prozent zu steigern, ein reines Lippenbekenntnis bleiben: Industrielle Start-ups und Kleinbetriebe können hierzu aller Erfahrung nach nur einen geringen Beitrag leisten.