Die inflexiblen Regeln der Schuldenbremse haben bereits in der zurückliegenden Dekade zu sehr niedrigen öffentlichen Investitionen geführt. Nach der Corona-Krise ist eine Überarbeitung dringend notwendig, um Investitionsspielräume zu schaffen und die Niedrigzinsen für deutsche Staatsschulden effizient zu nutzen.*
Die deutsche Staatsverschuldung ist in den letzten Jahrzehnten nicht kontinuierlich gestiegen, sondern in drei großen Sprüngen. Der erste folgte 1974 der Ölkrise, der zweite wurde durch die deutsche Wiedervereinigung ausgelöst und der dritte durch die globale Finanzkrise 2008/09.
Nur der letzte Schuldensprung wurde durch Haushaltskonsolidierung wieder korrigiert. Die Staatsverschuldung stieg zwischen 2008 und 2010 von 60 Przent auf 80 Prozent des BIP, um im darauffolgenden Jahrzehnt allmählich wieder auf knapp unter 60 Prozent im Jahr 2019 zu fallen. Mit der Corona-Krise kommt es nun 2020/21 zu einem erneuten kräftigen Aufwuchs.
Die Konsolidierung der letzten Dekade ist jedoch weniger auf eine sparsame Ausgabenpolitik zurückzuführen. Die Sozialausgaben wurden zum Beispiel durch Mütterrente und Baukindergeld ausgeweitet. Auch die Schuldenrückzahlung war nicht maßgeblich für den deutlich gesunkenen Schuldenanteil am BIP, sondern das Wachstum durch den Boom von 2009 bis 2019, was den Nenner der Schuldenquote anwachsen ließ.
Der Arbeitsmarkt florierte und die Beschäftigungsquote erreichte mit 80 Prozent ein Allzeithoch. Dies führte zu steigenden Steuereinnahmen, und rückläufige Zinszahlungen trugen ebenfalls zur Konsolidierung bei.
Geringe Infrastrukturinvestitionen
Aber auch wenn es nicht zu Einschnitten der Staatsausgaben kam, ist der Staat ausgerechnet bei den zukunftsgerichteten Ausgaben sehr sparsam: Die geringen öffentlichen Investitionen werden zu einem gravierenden Problem.
Das Wachstum des öffentlichen Kapitalstocks ist seit 2005 sogar negativ, wenn man die Abschreibungen berücksichtigt. Die Substanz der Infrastruktur erodiert. Schienen und Straßen, digitale Netze sowie Gebäude weisen immense Defizite auf. Dieser Substanzverzehr mindert die Lebensqualität der Bevölkerung, ist aber auch ein Hindernis für private Unternehmen geworden.
Zu den Gründen der Unterinvestition zählen die Herausforderungen der deutschen Einheit und demografische Entwicklungen; der Bevölkerungsrückgang in vielen Regionen ließ Investitionen in neue Infrastrukturen als unnötig erscheinen. Durch den demografischen Wandel und die Digitalisierung entstehen aber neue Bedarfe, auch in Schrumpfungsregionen.
Später kam als zweiter Grund die Inflexibilität der 2009 in Kraft getretenen Schuldenbremse hinzu. Diese schließt Haushaltsdefizite außerhalb schwerer Krisen (wie aktuell) nahezu aus, auch fremdfinanzierte öffentliche Investitionen.
Viele Investitionsprojekte haben einen langen Zeithorizont und kommen künftigen Generationen zugute. Ohne eine intergenerationelle Kostenteilung durch Verschuldung bedeutet dies, dass die heutigen Generationen zwar die vollen Kosten über laufende Steuereinnahmen tragen müssen, aber nicht den vollen Nutzen der Projekte über ihre Lebensdauer genießen werden.
Dies verursacht die Zurückhaltung gegenüber öffentlichen Investitionen mit. Außer Acht lässt die Schuldenbremse auch den Zinssatz für Staatsschulden: Dieser ist für deutsche Staatsanleihen inzwischen selbst bei langen Laufzeiten negativ. Er liegt seit mindestens einem Jahrzehnt unter der Wachstumsrate des nominalen BIP, sodass die Fremdfinanzierung öffentlicher Investitionen effizient und sinnvoll wäre.
Problembereich Kommunalfinanzen
Drittens ist das Unterinvestitionsproblem auf kommunaler Ebene im deutschen Steuerföderalismus begründet. Die Kommunen haben auf der Einnahmen- wie auch auf der Ausgabenseite wenig Ermessensspielraum über ihren Haushalt.
Während die Bruttoinvestitionen auf Bundes- und Landesebene sogar leicht gestiegen sind, wurden sie in den Gemeinden stark reduziert. Insbesondere überschuldete Kommunen investieren weniger. Auch nach dem goldenen Jahrzehnt von 2009 bis 2019 mit stabilem Wachstum ist das Problem der Kommunalfinanzen in den schwächeren Gemeinden ungelöst.
Die meisten Einnahmen stammen aus gemeinsamen Steuern, die nach einem formelbasierten Ansatz auf die verschiedenen Regierungsebenen verteilt werden. Für eine einzelne Gemeinde sind die Steuereinnahmen überwiegend gegeben. Ausgabenseitig sind die Kommunen dafür verantwortlich, bestimmte Arten von obligatorischen Sozialausgaben zu tätigen, zum Beispiel Wohnkosten für Sozialhilfeempfänger.
Um ein entstehendes Delta zwischen Einnahmen und Ausgaben zu schließen, bleibt den Kommunen oft nur die Rückführung freiwilliger Ausgaben – wie etwa Investitionen – und/oder der Aufbau von Kassenkrediten. Investitionen werden in der Praxis zu einer Restausgabenkategorie.
Seit den 1990er Jahren, als die Wiedervereinigung finanziert werden musste, ist deshalb die Schere zwischen wirtschaftsstarken Kommunen mit hohen Gewerbesteuereinnahmen und finanzschwachen Kommunen in wirtschaftlichen Problemregionen wie dem Ruhrgebiet weiter aufgegangen.
Finanzpolitischer Paradigmenwechsel
Der Schock der Corona-Pandemie wurde schnell beantwortet. Die Aussetzung der Schuldenregel beruhte auf einem breiten Konsens. Die Prüfung, ob die „schwarze Null“ längerfristig Bestand hat, steht aber noch aus.
Wenn es einen Paradigmenwechsel gibt, wird er auf zwei wesentlichen Triebkräften beruhen: erstens auf der großen Lücke bei den öffentlichen Investitionen, die vor der Pandemie zunehmend wahrgenommen und diskutiert wurde. Angesichts des scharfen wirtschaftlichen Strukturwandels durch Dekarbonisierung, digitale Transformation, demografische Alterung und globale Desintegration werden diese Defizite immer gravierender.
Zweitens hat sich das Zinsumfeld grundlegend verändert, was sich wiederum auf die Fiskalpolitik und das fiskalische Paradigma im weiteren Sinne auswirken muss. Auf europäischer Ebene scheint ein solcher Wechsel schon eingeleitet.
Der Aufbauplan „Next Generation EU“ zeigt die Bereitschaft, neue gemeinsame Lösungen zu finden. Der Plan könnte den Weg in eine europäische Investitionsunion weisen. Im deutschen Konjunkturpaket vom Juni 2020 sind fast 45 Milliarden Euro für Investitionen in Zukunftstechnologien, digitale Transformation und nachhaltige Mobilität vorgesehen. Dieses Investitionsprogramm müsste über die kommenden 10 Jahre verstetigt werden.
Gefährlich wäre ein europaweites Umschalten auf einen Sparkurs direkt nach der Corona-Pandemie, diktiert durch strenge fiskalische Regeln. Die Fristen für die Wiedereinhaltung der Maastricht-Kriterien sollten auf 15 bis 20 Jahre verlängert werden. Für die obligatorische Schuldentilgung im Rahmen der deutschen Schuldenbremse sind ebenfalls lange Zeithorizonte erforderlich.