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© GEORGES GOBET/Getty Images

Fühlen und probieren lässt sich noch nicht simulieren. Sehen schon. Augmented-Reality-Technologien sind auf dem Vormarsch. Sie verändern nicht nur die Art und Weise, wo und wie Kunden Möbel oder Kleidung kaufen. Auch für KMU gibt es sinnvolle – und bezahlbare – Einsatzmöglichkeiten. 

Es ist atemberaubend, wenn sich der Brachiosaurus brancai mit seinen zwölf Metern Höhe und fast 20 Metern Gesamtlänge im Ausstellungsraum des Naturkundemuseums Berlin zu bewegen beginnt und von seinem Podest steigt. Was die Besucher hier erleben können, ist dank des Einsatzes von Augmented-Reality-Technologie möglich.

Mit Googles Virtual-Reality-Brille „Cardboard“ können die Museumsgäste hautnah einen Dinosaurier-Koloss beobachten. Insbesondere für Kinder ist das ein Riesenerlebnis und aus diesem Museum kaum mehr wegzudenken.

Man benötigt nicht viel Phantasie, um zu erkennen, dass das, was in einem Museum möglich ist, auch in einem Showroom umsetzbar wäre. Und die Großen der Retail-Branche zeigen einmal mehr, wie es geht. Längst bieten Marken wie Puma ihren Kunden Einkaufserlebnisse der neuen Art. Im Puma-Store im japanischen Harajuku können Kunden mit einem sogenannten Augmented Mirror Produkte anprobieren. Ein Spiegelbild des Kunden wird mit den digitalen Kleidungsstücken ergänzt.

Schnell können verschiedene Farben von Kleidungsstücken ausprobiert werden, ohne sich umziehen zu müssen. Der Edelschmuck-Produzent Tiffany bot seinen Kundinnen sogar einen virtuellen Ringfinder an. Andere Marken wie Timberland, Coca-Cola oder Louis Vuitton setzten in den vergangenen Jahren ähnliche AR-Kampagnen um, die meist bei den Kunden ein großes Echo hervorriefen – wenngleich es oft Einzelaktionen und keine flächendeckenden Anwendungen waren.

Doch Augmented Reality (AR), die Technologie, mit deren Hilfe die reale Welt um fiktionale Inhalte erweitert werden kann, befindet sich genauso wie die Virtual Reality (VR), also eine vollkommene dreidimensionale Fantasiewelt wie etwa in Computerspielen, auf dem Vormarsch. Große Industrien und Dienstleister greifen schon seit Jahren auf die Möglichkeiten der AR-Technologien zurück, um ihren Kunden unvergessliche Erlebnisse oder online schlicht perfekten Service bieten zu können.

So hat der schwedische Möbelgigant Ikea bereits Ende 2017 die Einrichtungs-App „Ikea Place“ veröffentlicht. Damit können Nutzer Ikea-Möbel virtuell in ihre Wohnungen stellen und gleich sehen, ob sich der Stuhl, die Schrankwand oder der Teppich ins Ambiente einfügen. Ebenso bietet seit Anfang des Jahres der Versandhändler Otto eine Augmented-Reality-App für die virtuelle Stellprobe im Wohnzimmer an.

 

Nicht ins Hintertreffen geraten

Große Unternehmen nutzen die Vorteile von AR, um Kunden zu binden und sie für sich zu begeistern. Doch wie reagieren kleine und mittelständische Unternehmen? Immerhin sagen Experten der Technologie ein rasantes Wachstumspotenzial voraus. Schon in zehn Jahren soll der Markt für Augmented Reality so groß wie der PC-Markt sein. Wer hier nicht mithält, kann schnell ins Hintertreffen geraten.

So sah das auch der Esslinger Familienbetrieb Gress Friseure. Also nutzt Geschäftsführer Peter Gress eine App, mit deren Hilfe Kunden mehr Hintergrundinformationen über die einzelnen Teammitglieder erhalten. Zum Beispiel, indem sie mit ihrem Smartphone ein Mitarbeiterfoto im gedruckten Kundenmagazin abfotografieren; sogleich erscheint ein Film, in dem sich Friseur oder Friseurin persönlich vorstellen und ihre Handwerks-Philosophie erläutern. Zudem bietet Gress über die App Tutorials, weiterführende Produktinformationen zu Haarpflegemitteln oder informiert über Aktionen und Veranstaltungen.

 

Völlig neue Verkaufswelten mit AR

„Damit wollen wir unseren Kunden auch über den Service im Salon hinaus einen Mehrwert bieten und mit ihnen in Kontakt bleiben“, sagt Peter Gress, der mit seinem AR-Vorstoß in seiner Branche zu den Vorreitern gehört. Langfristig will er die virtuellen Angebote weiter vorantreiben, weil er überzeugt ist, dass die Kunden es erwarten. Neueste Analysen belegen das. So zeigt die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC in ihrer jüngsten Studie „Digital Trend Outlook 2016 “, dass fast zwei Drittel der Deutschen glauben, Augmented Reality sei ein Wachstumsmarkt. Zudem gehen sie davon aus, dass AR ein „fester Bestandteil ihres Alltags sein wird“.

Am buntesten blühen die Visionen im Handel. Laut der PwC-Studie werden schon bald vollständig digitale Stores möglich sein, in denen sich die Kunden mit Hilfe von VR-Brillen bewegen und einkaufen, während sie zu Hause auf der Couch sitzen. Andere machen es vor. Der chinesische Online-Verkäufer Yihaodian eröffnete gemeinsam mit der Werbeagentur Ogilvy bereits 2012 quasi über Nacht mehr als 1.000 Geschäfte, die Kunden schlicht mit einer Smartphone-Kamera und der notwendigen App besuchen konnten. Die gekauften Produkte lieferte Yihaodian nach Hause.

Das Beispiel zeigt, wohin die Reise geht und dass der Fantasie keine Grenzen mehr gesetzt sind. Für Händler bedeutet das aber auch, dass sich neben dem verbesserten Kundenerlebnis auch enorme Einsparungspotenziale ergeben. Dank AR kann man virtuelle Verkaufsflächen nutzen, das Design stetig verbessern. Im Vergleich zu Verkaufsflächen im innerstädtischen Bereich sind die erweiterten virtuellen Geschäftskonzepte verhältnismäßig kostengünstig und zudem schneller umsetzbar. Und virtuelle Verkaufsfilialen könnten künftig womöglich als Testballon für das Design realer Stores dienen.

Neue Wege gehen auch deutsche Mittelständler im Industriebereich beim Einsatz von AR-Technologie. So hat die Firma Gabler aus Malsch bei Ettlingen mit dem Einsatz der Cave Automatic Virtual Environment (CAVE) im vorigen Jahr ein neues Kapitel in der Geschichte des 1906 gegründeten Familienunternehmens aufgeschlagen. Gabler ist ein typischer Hidden Champion, der zu den Weltmarktführern beim Produktionsanlagenbau für die Lebensmittel- und Pharmaindustrie gehört. Das Problem von Gabler: Eines der angemieteten Werksgebäude eignete sich nicht für den optimalen Produktionsablauf, bescherte Zeitverluste und erzeugte unnötigen Aufwand.

 

In der virtuellen Höhle

Die Schwachstellen identifizierten die ­Ingenieure von Gabler mit dem Einsatz von CAVE. Von der Anlieferung des Materials über Lager, Warenverteilung und Fertigung bis hin zum Aufbau der fertigen Produktionsanlagen, die bis zu 300 Meter lang sein und sich über zwei Etagen erstrecken können, stellten die Ingenieure alle Schritte virtuell nach. Nach der Analyse am 3D-Modell konnten sie den Neubau eines Betriebsgebäudes planen und sämtliche Abläufe und Prozesse darin deutlich verbessern.

Das Beispiel zeigt den Mehrwert – und tatsächlich setzt sich das, was Gabler erfolgreich angewendet hat, bei immer mehr kleinen und mittelständischen Unternehmen durch. AR-Technologien bieten in puncto Effizienz, Kostensenkung und Zeitgewinn noch ungeahnte Potenziale. So wird ihr Einsatz nicht nur für Museumsbesucher, sondern auch für Unternehmer zum Riesen-Erlebnis.

 

Rechtliche Tipps

Mit der Nutzung von AR-Technologien ergeben sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund der neuen Datenschutz-Grundverordnung einige rechtliche Fragestellungen, die zu beachten sind. Hier die wichtigsten Aspekte:

 

Urheberrechte

In Virtual und Augmented Reality bewegen sich die User in virtuellen Landschaften, in denen Projektionen von realen Landschaften und Bauwerken gezeigt werden können. Hier müssen die Grenzen des deutschen Urheberrechts beachtet werden. Beispielsweise dürfen Gegenstände nur gezeigt werden, sofern sie in der Realität auch auf öffentlichen Straßen und Plätzen zu sehen sind. Die projizierten Bauwerke dürfen nicht in ihrer Form und Größe virtuell verändert werden.

 

Marken
Eine Abbildung von Marken ist unproblematisch, solange sie lediglich im Hintergrund projiziert werden und visuell nicht im Vordergrund stehen. Jedoch sollte man darauf achten, nicht den Eindruck der Schleichwerbung zu erzeugen.

 

Einwilligung

Mit AR sammeln Unternehmen in vermehrten Maße Daten der User. Geodaten etwa sind besonders interessant für die Werbe­industrie. Hier muss zukünftig besonders darauf geachtet werden, dass personen­bezogene Daten grundsätzlich nicht ohne die Einwilligung der Betroffenen weitergeleitet oder verbreitet werden dürfen.

 

Datenschutz-Grundverordnung
Augmented Reality, Virtual Reality, Mixed Reality, all diese technologischen Entwicklungen bergen auch Datenschutz­risiken, die nicht sofort identifizierbar sind. Es scheint, als hätten virtuelle Realitäten nichts mit den Daten der realen Welt eines Nutzers zu tun. Aber Vorsicht: Denn User-­Daten sind oft die Basis für die Erweiterung der realen Lebenswelten. Bevor ­Unternehmen also AR oder VR einsetzen, sollten sie eine Dateschutz-Folgenabschätzung vornehmen lassen, wie sie auch von der europäischen Datenschutz-Grundverordnung vorgeschrieben wird.

 

»Wir stehen gerade an einem Wendepunkt «

Nikolai Bockholt, Creative Technologist und Experte für AR/VR beim Bundesverband Digitale Wirtschaft, über Einsatzmöglichkeiten der Technologie in KMU.

 

Herr Bockholt, lohnen sich AR-Technologien für kleine Unternehmen?

Nikolai Bockholt: Die Möglichkeiten, mit AR in einem kleineren mittelständischen Unternehmen etwas Sinnvolles zu machen, würde ich am ehesten bei der Smartphonebasierten AR sehen. Denn über ein Smartphone verfügt ja inzwischen praktisch jeder.

 

Also die einfachste Lösung, bei der Nutzer noch keine Extrageräte benötigen?

Bockholt: Genau. Bei AR gibt es ja zwei Ansätze. Der eine ist die Smartphone­basierte AR und wendet sich zumeist an die Endkunden. Die andere Ausprägung von AR wäre so etwas wie beispielsweise die Microsoft Hololens. Das sind Geräte, die mehrere Tausend Euro kosten und die immer noch großen Beschränkungen unterliegen, entweder in der Leistungsfähigkeit oder in der Langlebigkeit. Das lohnt sich vermutlich nur für die größere Industrie.

 

Lassen die Entwickler kleine Unternehmen in diesem Bereich links liegen?

Bockholt: Gerade im Bereich der AR ist das Investment ein bisschen höher und vielleicht nicht für jeden kleinen Mittelständler sofort geeignet. Aber ich würde hier auf keinen Fall pauschalisieren. Ich kenne einige Beispiele, die sich vor allem im B2B-Bereich abspielen, also bei Unternehmen, die komplexere Produkte herstellen, die AR nutzen.

Etwa um Servicetechniker oder Endkunden zu schulen, mit dem Produkt richtig umzugehen. Nehmen wir zum Beispiel eine superneue, komplexe Kaffeemaschine. Zu der gibt’s dann eine AR-App, die die Front der Maschine erkennt und einem Schritt für Schritt erklärt, wie sie bedient werden oder wie man das Mahlwerk wechseln muss. So etwas könnte auch für einen Mittelständler eine sinnvolle Variante sein.

 

Wie entwickelt sich AR in den kommenden Jahren?

Bockholt: Wir befinden uns mit der AR-Technologie momentan an einem Wendepunkt, wo sie gerade einen Stand erreicht, um produktiv und kosteneffizient einsetzbar zu sein. Das heißt, vor zwei, drei Jahren waren weder Smartphones noch die brillenartigen Displays in der Lage, einen echten Mehrwert zu bieten. Da war die technologische Vision weiter als das, was die Hardware und damit auch die Anwendungen effektiv leisten konnten.

 

Dementsprechend kann ich mir vorstellen, dass viele, die sich vor drei Jahren damit beschäftigt haben, noch desillusioniert wurden. Aber meine Einschätzung heute ist, dass gerade jetzt durch die Smartphone-basierte AR die Einsatzmöglichkeiten immer lohnender werden – vorausgesetzt man hat eine Idee, wie man im Betrieb oder im Service damit etwas verbessern oder effizienter machen kann.