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Fahrerlose Transportfahrzeuge verdrängen die konventionellen Gabelstapler. Aus gutem Grund: Sie machen den Betrieb im Lager schneller, effizienter und sicherer.
Von oben betrachtet, erinnert das Ganze an einen Bienenstock oder Ameisenhaufen. Mit dem Unterschied, dass hier keine fleißigen Tiere hin- und herreisen, sondern rechteckige Kästen, ein Meter breit und bis zu drei Meter lang.
Diese sogenannten Fahrerlosen Transportfahrzeuge, kurz FTF, schwirren planvoll, scheinbar von unsichtbarer Hand gesteuert, durch die Lagerhalle in Ohrdruf. In der thüringischen Kleinstadt betreibt das Unternehmen Hermes Fulfilment ein Logistikzentrum.
Die Logistikbranche ist neben der Autoindustrie einer der großen Abnehmer der Fahrerlosen Transportsysteme, FTS. Wer in diesen Wirtschaftssektoren zu den Vorreitern zählen will, der kommt an den roboterähnlichen Vehikeln kaum mehr vorbei.
Überall, wo es um Ein- und Auslagerung von Stückgut geht, sind die mobilen Fördermittel, berührungslos geführt, automatisch gesteuert, für viele Experten das Maß aller Dinge. Und deshalb verdrängen die FTF immer mehr den konventionellen Gabelstapler, dessen kleinen Bruder, den Gabelhubwagen, aber auch die schienengebundenen Fördersysteme.
Mehr Effizienz und Sicherheit
Kein Wunder: Der Einsatz der FTS verkürzt die Durchlaufzeiten der Waren, erhöht den Effizienzgrad der Lagerhaltung – und macht das Arbeiten der Beschäftigten sicherer.
Hermes Fulfilment hat Ende 2011 am Standort Ohrdruf das fahrerlose Transportsystem in Betrieb genommen – als Ergänzung zum manuellen Kommissionieren.
„Wir haben das System integriert, weil sich infolge einer Sortimentsumstellung die Zahl der Artikelpositionen nahezu verdoppelt hatte. Deshalb mussten wir zusätzliche Kommissionierplätze schaffen. Den damit verbundenen höheren Wegeanteil beim Kommissionieren übernimmt das FTS“, sagt Ronald Ganther, Leiter Inbound an dem Standort.
Herzstück der FTS-Anlage ist die Steuerzentrale. Dort werden jedem der 52 Fahrzeuge Aufträge für die Kommissionierung der Ware zugewiesen. „Das FTS fährt automatisch zum ersten Lagerort. Dort entnimmt ein Mitarbeiter die vorgegebene Menge an Artikeln, klebt ein Pick-Etikett darauf und legt die Ware auf eine mitgeführte Spezialpalette“, erklärt Ganther.
„Sobald der Kommissionierer die Entnahme per Knopfdruck am Fahrzeug bestätigt, fährt es automatisch zum nächsten Lagerort. Wenn die Aufträge abgearbeitet sind oder die Palette voll ist, wird sie automatisch zur Abgabestation an der Sortieranlage im Warenausgang transportiert“, so Ganther.
Die FTF bewegen sich entlang einer fünf Kilometer langen Magnetpunktspur und erreichen im Automatikbetrieb eine Geschwindigkeit von etwa fünf Stundenkilometern. Bei einem niedrigen Batteriestand fahren die Geräte automatisch zu einer der 52 eingerichteten Ladestationen. Die Batterien werden über Kontakte auf dem Hallenboden aufgeladen.
Der aufgeladene Akku reicht für etwa 14 Stunden Betriebszeit. Und wie harmonieren sie mit den traditionellen Kommissionierfahrzeugen? „Die FTF haben immer Vorfahrt, wir haben unsere Mitarbeiter darin intensiv geschult“, sagt Ganther.
Hermes Fulfilment ist einer der großen Nutzer der FTS. Es geht aber auch noch größer: In Großbritannien benutzt das Molkereiunternehmen Arla Foods sogar 96 der FTS, um Waren zu transportieren. Generell werden in rund 50 Prozent der Anlagen Güter mit den Abmessungen von Europaletten oder Gitterboxen von A nach B gefahren.
Zu den größten FTS-Herstellern zählen EK Automation, MLR System und BF Automation aus Österreich. Die Variantenvielfalt ist allerdings enorm. Beispiel BMW: Im Werk Dingolfing transportiert eine autonome Transportplattform Ladungen von bis zu 20 Tonnen.
Oder SEW Eurodrive: Der Autozulieferer hat im eigenen Werk einen Logistikassistenten im Einsatz, der Monteure unterstützt. Oder Uniklinikum Leipzig: Seit längerem bewegt dort ein FTS im Kellerbereich der Klinikgebäude unter anderem Speisen, Wäsche oder Abfall.
Nur, um Personalkosten zu senken?
Es geht aber auch noch extravaganter, wenn man einen Roboter auf ein automatisches Fahrzeug setzt: Die E-Commerce-Firma Zalando etwa hat seit rund zweieinhalb Jahren am Logistikzentrum in Erfurt acht mobile Roboter des Münchner Unternehmens Magazino zur Kommissionierung im Einsatz.
Weil Zalandos Waren hauptsächlich aus ähnlich großen Kartons bestehen, können hier roboterisierte Greifarme die Waren aus den Regalen ziehen und auf die 30 FTS packen.
So weit ist Amazon in Deutschland noch nicht. Allerdings kann der US-Riese mit der Anzahl seiner im Betrieb befindlichen FTS beeindrucken. Beispiel Logistikzentrum Winsen: In dem rund 64.000 Quadratmeter großen Gebäude sind heute mehrere Hundert Transportroboter auf drei Ebenen unterwegs, die Regale anheben und zu den Mitarbeitern bringen.
Auf jeder Ebene gibt es ein zentrales Robotics-Feld, auf dem die Regale lagern und die Roboter fahren. Am Rande befinden sich die Arbeitsplätze der Kommissionierer. „Die Zusammenarbeit mit den Transportrobotern umfasst zwei Arbeitsschritte“, sagt ein Unternehmensprecher. „Stow, also das Einlagern der Ware in das Regal, und Pick, das Kommissionieren von bestellten Produkten aus dem Regal.“
Für die Routenplanung der Roboter auf dem Weg zum Mitarbeiter komme Künstliche Intelligenz zum Einsatz. Geplant würden immer nur die nächsten drei Schritte, dann werde neu berechnet, ob es eine bessere Route gibt.
Diese Art der automatischen Versorgung von Mitarbeitern mit Regalen, in denen die zu kommissionierende Ware liegt, ist in den US-amerikanischen Standorten von Amazon bereits weit verbreitet: In Summe hat Amazon schon mehr als 100.000 FTF im Einsatz.
Alles paletti in der FTS-Welt? Oder sind die mobilen Transportsysteme nur eine Möglichkeit, die Personalkosten zu senken. Stimmt die Rechnung: Mehr automatische Transportsysteme gleich weniger Mitarbeiter? Existieren auch Risiken, Gefahren beim Betrieb der Fördersysteme? Was ist mit der Sicherheit der Mitarbeiter, der IT? Was müssen Unternehmer beim Betrieb der Fördermittel beachten? Und harmonieren auch Systeme verschiedener Hersteller miteinander?
Entlastung für Mitarbeiter
Fragen wie diese beantworten die Forscher des Fraunhofer-Instituts für Materialfluss und Logistik in Dortmund. Thomas Albrecht, Leiter Fahrerlose Transportsysteme, ist einer der Experten für FTS in Deutschland.
„Es ist ein positiver Nebeneffekt, dass die Personalkosten dadurch sinken“, sagt Albrecht. Er listet aber eine Reihe weiterer entscheidender Vorteile auf. „Ein Gabelstaplerbetrieb ist unsicher, immer wieder kommt es zu Unfällen“, sagt Albrecht. „In einem FTS kommt es zu keinen Unfällen.“
Der entscheidende Vorteil sei für ihn aber, dass die Technologie vor allem ein systemisches Organisationsmittel ist. „Die Einführung erfordert es, sich über Abläufe und Strukturen in der Produktion, im Lager oder wo auch immer die automatisierten Transporte zukünftig durchgeführt werden sollen, Gedanken zu machen.“
Es gehe nicht um ein „Weiter wie bisher – nur ohne Staplerfahrer“, sondern um die Chance auf optimierte Abläufe, mehr Ordnung und Transparenz.
Das bestätigt Hermes-Manager Ganther. „Wir haben seitdem keinen Mitarbeiter weniger. Es geht vielmehr darum, die Mitarbeiter zu entlasten und dort einzusetzen, wo sie gebraucht werden.
Weniger wertschöpfende Tätigkeiten und lange Transportwege übernimmt das FTS. Das hilft uns, in Zeiten des Fachkräftemangels die Produktivität zu steigern“, so Ganther. Auch in Zukunft, so ist sich Albrecht sicher, werden Menschen in Lagerhallen beschäftigt. Ziel ist es, ihre Arbeitskraft zu multiplizieren.
Wichtig ist auch, ob sich in Zukunft eine standardisierte FTS-Leitsteuerung etablieren lässt, die herstellerneutral auf verschiedenen Systemen funktioniert.
Fraunhofer-Fachmann Thomas Albrecht sagt, dass die Leitsteuerung in der Vergangenheit de facto als „Kundenbindungsprogramm“ diente, da Anwender bei der Entscheidung für ein bestimmtes FTS dauerhaft auf dessen Hersteller angewiesen sind: „Änderungen und Erweiterungen sind nur mit diesem Lieferanten möglich, Fahrzeuge anderer Hersteller sind praktisch nicht in ein vorhandenes System integrierbar.“
Mit Spannung schaut die Branche deshalb auf die diesjährige Hannover Messe. Wie Albrecht weiß, werden auf einer Fläche von 600 Quadratmetern zwölf Fahrzeuge von unterschiedlichen Herstellern erstmals gemeinsam durch eine einzige Leitsteuerung bewegt.
Die Verbände VDA und VDMA hatten zuvor mit einer Richtlinie (VDA 5050) zur standardisierten Kommunikation von Leitsteuerung und Fahrzeugen dafür die Grundlage erarbeitet.
Ein Interesse an einer positiven Entwicklung haben nicht zuletzt die Automobilhersteller: In deren Produktionshallen sind oft mehrere Systeme unterschiedlicher Hersteller im Betrieb, die sich nicht ins Gehege kommen dürfen.
Weitere Einsatzbereiche für FTS
Ursprünglich waren FTS für den innerbetrieblichen Materialtransport vorgesehen. Mittlerweile übernehmen die Vehikel weitere Aufgaben – zum Beispiel:
- Auskunft geben im Museum
- Koffertransport im Hotel oder Flughafen
- Bodenreinigung in Supermärkten,
- Flughafen- oder Bahnhofshallen
- Security innerhalb von Gebäuden
- während der Nachtstunden
- Hilfestellungen im Krankenhaus oder in einer Altenpflegeeinrichtung
Danke für diesen interessanten Beitrag. Mein Onkel möchte sich einen gebrauchten Niederhubwagen kaufen und ich interessiere mich deswegen sehr für Lagerlogistik und welche Maschinen dabei zum Einsatz kommen. Interessant, dass die FTF immer mehr den konventionellen Gabelstapler verdrängen.