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Arbeitgeber müssen ihre Beschäftigten vor jobbedingten Gefahren für Leib, Leben und die Psyche schützen. Gerade Letzteres ist nicht einfach – bei der psychischen Gefährdungsbeurteilung hinkt der Mittelstand hinterher. Doch die Mühe kann sich lohnen.
Zeitdruck, ständige Verfügbarkeit, die quälende Gewissheit, dass nichts so bleiben wird, wie es ist: Das Erwerbsleben in Zeiten der Digitalisierung ist intensiv. Und es bekommt nicht jedem. Eine aktuelle Umfrage der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin belegt: Mehr als die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland leidet unter dem hohen Arbeitstempo. 60 Prozent klagen über häufige Unterbrechungen; Termin- oder Leistungsdruck belasten 67 Prozent.
Dazu passt, dass sich Zahl der Krankmeldungen wegen psychischer Leiden in den vergangenen zehn Jahren mehr als verdoppelt hat. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervor.
„Es wäre zwar zu einfach, diese Entwicklung allein der immer komplexeren Arbeitswelt anzulasten“, kommentiert Claudia Samson, Chefin der Unternehmensberatung Resiliar in Köln. „Unbestritten ist jedoch, dass schlechte Arbeitsbedingungen die Psyche belasten und krank machen können.“
Erst vor kurzem musste etwa das Landessozialgericht Bayern über die Klage eines Versicherungsvertreters entscheiden, der einen Burnout erlitten hatte und für dessen Anerkennung als Berufskrankheit stritt. Die langen Arbeitszeiten, schwierige Kunden und Kollegen sowie mangelnder Rückhalt durch Vorgesetzte hätten seine Krankheit begünstigt. Zwar blieb die Klage am Ende erfolglos (Az.: L 3 U 233/15), dennoch verdeutlich der Fall, welchen Stellenwert ein gesundes Arbeitsumfeld inzwischen einnimmt.
Jeder Arbeitgeber ist in der Pflicht
Das Arbeitsschutzgesetz verpflichtet jedes Unternehmen in Deutschland – vom Ein-Mann-Betrieb bis zum Großkonzern –, die Gefahren zu identifizieren, denen Beschäftigte bei der Arbeit ausgesetzt sind, und geeignete Schutzmaßnahmen zu treffen.
Diese Aufgabe geht weit über den klassischen Unfallschutz hinaus. „Seit 2013 umfasst die Gefährdungsbeurteilung auch Risiken für die psychische Gesundheit“, sagt Lennard Lürwer, Arbeitsrechtler bei CMS Hasche Sigle in Köln.
Die Umsetzung dieser Vorgaben macht jedoch Probleme. Nachholbedarf besteht vor allem im Mittelstand. Der Arbeitssicherheitsreport 2018/2019 der Prüfgesellschaft Dekra belegt: Bislang haben nur 41 Prozent der kleinen und mittelständischen Unternehmen in Deutschland die vorgeschriebene psychische Gefährdungsbeurteilung durchgeführt. „Anders als in Großkonzernen gibt es hier oft nicht die Kapazitäten, jede gesetzliche Neuerung sofort anzugehen“, kommentiert Rechtsanwalt Lürwer.
Schwierigkeiten bereiten zudem die schwammigen Formulierungen des Gesetzes. Klare Handlungsanweisungen sucht man vergeblich. „Der Gesetzgeber ist bewusst vage geblieben, um Unternehmen möglichst breite Handlungsspielräume zu geben“, sagt Lürwer.
Denn je nachdem, wie groß ein Unternehmen ist und in welcher Branche es arbeitet, können die Belastungen für die Belegschaft unterschiedlich sein. Entscheidend sei zudem, in welchem Bereich und unter welchen Bedingungen ein Arbeitnehmer seinen Job verrichtet. Lürwer: „Arbeitsplätze im Außendienst bringen andere Belastungen mit sich als Jobs in der Lohnbuchhaltung, in der Kantine oder an der Rezeption.“
Hinzu kommen Faktoren, die unabhängig vom konkreten Jobprofil zu beachten sind. Wie sehen die Arbeitszeiten in den unterschiedlichen Abteilungen und Hierarchieebenen aus? Haben die Beschäftigten Handlungsspielräume oder agieren sie streng nach Vorschrift? Wie ist das Verhältnis zu Kollegen und Vorgesetzten?
Nur wer die Antworten auf diese Fragen kennt, kann abschätzen, ob das Arbeitsumfeld psychologisch bedenklich ist und, falls ja, erfolgreich gegensteuern. Eine gute Gefährdungsbeurteilung ist daher mit einem gewissen Aufwand verbunden.
Ein guter Start: die Mitarbeiterbefragung
Der erste Schritt ist meist eine Mitarbeiterbefragung. „Die eigentliche Aufgabe beginnt allerdings erst, wenn die Bögen ausgewertet sind“, sagt Beraterin Samson. Dann gehe es daran, zusammen mit den Betroffenen Maßnahmen für ein gesünderes Arbeitsumfeld zu identifizieren, etwa in einem Workshop.
In dieser Phase entscheidet sich, welche Effekte das Verfahren auf das Arbeitsklima hat. „Wer mit viel Getöse Missstände aufdeckt, dann aber zur Tagesordnung übergeht, ohne etwas zu unternehmen, muss sich nicht wundern, wenn die Mitarbeiter frustriert reagieren“, warnt Samson. Umgekehrt erlebe sie oft, dass schon kleine Maßnahmen eine Abteilung zum Positiven verändern.
„Oft reicht es, eine nervige Telefonanlage neu zu programmieren, um bestimmte Stresspeaks abzubauen. Genauso kann eine Schallschutzwand den Klangteppich aus dem Nachbarbüro reduzieren.“
Natürlich gebe es auch Probleme, die sich nicht über Nacht beseitigen lassen. Vor allem, wenn die Belegschaft, wie so oft, unter dem Verhalten von Führungskräften leidet. In diesem Fall braucht es langfristige Lösungen, etwa regelmäßige Feedbackgespräche oder ein gemeinsames Wertesystem, dem sich die Mitarbeiter aller Hierarchiestufen verpflichtet fühlen.
In Einzelfällen können auch eine Mediation oder ein Coaching dazu beitragen, die Probleme in den Griff zu bekommen. „Eine gute Gefährdungsbeurteilung macht sich nicht von allein“, fasst Beraterin Samson zusammen. Wenn sie am Ende aber das Betriebsklima verbessert, Fehlzeiten verringert und insgesamt für mehr Produktivität gesorgt hat, sind Geld und Zeit gut angelegt.
Gefährdungsbeurteilung – Schritt für Schritt ans Ziel
1. Tätigkeiten/Arbeitsbereiche definieren: Beurteilen Sie einzelne Berufsbilder und Hierarchiestufen (Assistenz, Projektmanagement, Abteilungsleiter) beziehungsweise, Arbeits- oder Organisationsebenen (Verwaltung, Lager, Außendienst) gesondert.
2. Psychische Belastung ermitteln: In der Praxis bewährt haben sich vor allem anonymisierte Mitarbeiterbefragungen.
3. Ergebnisse bewerten: Wie schwer die ermittelten Belastungen wiegen, lässt sich am besten im Dialog mit der Belegschaft herausfinden – etwa in Workshops.
4. Maßnahmen entwickeln und umsetzem: Ihren Sinn erfüllt die Gefährdungsbeurteilung nur, wenn erkannte Missstände beseitigt werden
5. Wirksamkeit kontrollieren: Regelmäßige Kontrollen stellen sicher, dass Ihre Maßnahmen nicht verpuffen.
6. Einschätzung aktualisieren: Eine Gefährdungsbeurteilung ist ein laufender Prozess. Er muss angepasst werden, wenn sich die Arbeitsbedingungen ändern, etwa nach Restrukturierungen, durch neue Technik oder Führungswechsel.
7. Ergebnisse dokumentieren: Die Beurteilung ist vorgeschrieben, konkrete Anforderungen enthält das Gesetz nicht. Grundsätzlich reichen Protokolle von Workshops und Besprechungen aus sowie ein niedergeschriebener Maßnahmenkatalog.