Produkte so gestalten, dass sie nach ihrem Lebenszyklus wiederverwertet werden können: Die Idee ist so simpel wie bahnbrechend. Unter dem Begriff „Cradle-to-Cradle“ findet sie in der Bau- und Immobilienbranche immer mehr Anwender. Ihnen ist ein Image-Vorsprung gewiss.

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Viele reden drüber, Christoph Waldmann lebt Umweltschutz. Der Juniorchef des gleichnamigen Leuchtenherstellers kann es mit Zahlen belegen: Waldmann hat den Papierverbrauch in den vergangenen Jahren um rund 25 Prozent gesenkt, das Unternehmen verbraucht im Vergleich zu 2012 trotz eines starken Umsatzwachstums zehn Prozent weniger Strom und die Abfall-Recyclingquote liegt inzwischen bei 92 Prozent.
Zudem ist das Familienunternehmen aus Villingen-Schwenningen Vorreiter des Cradle-to-Cradle-Prinzips. Cradle-to-Cradle? Viele Unternehmer behaupten, den Ansatz zu kennen, doch wenn Christoph Waldmann auf Messen darauf angesprochen wird, muss er oft noch mal etwas weiter ausholen.
Das geht Michael Braungart ähnlich. Der Professor für Verfahrenstechnik und Chemie gilt zusammen mit dem US-Architekten William McDonough als Erfinder dieser perfekten Kreislaufwirtschaft. 2002 brachten sie das Konzept auf den Weg, bei dem die weitere Verwendung der Rohstoffe nach der ersten Nutzung im Vordergrund steht. Seit 2010 vergibt das von ihnen gegründete Cradle to Cradle Products Innovation Institute, eine gemeinnützige Organisation mit Sitz in Amsterdam, offizielle Zertifikate für den Cradle-to-Cradle-Produktstandard.
Übersetzt bedeutet der Begriff „von der Wiege in die Wiege“, sprich ein zweites, drittes und sogar viertes Leben für einen Rohstoff. Konsequent umgesetzt, bedeutet der Ansatz nicht weniger als eine Revolution in der Produktentwicklung.
Denn sie müssten so gestaltet, gebaut, genutzt und zurückgenommen werden, dass die Rohstoffe erneut in den Kreislauf kommen. Das Ergebnis wäre eine Welt ohne Müll. Zudem schließt der Cradle-to-Cradle-Ansatz von Braungart und McDonough auch die umweltfreundliche Produktion und die Nutzung von erneuerbaren Energien mit ein.
Bauwesen und Immobilienbranche vorneweg
Christoph Waldmann kam mit dem Konzept 2015 in Berührung. Das Bau- und Immobilienberatungsunternehmen Drees & Sommer hatte ihm Visionen des Immobiliensektors für die nächsten 30 Jahre vorgestellt. Der Klimawandel zwinge Unternehmen und Bürger zu mehr Energieeinsparungen, Produkte müssten ganzheitlich betrachtet werden, hieß es darin. Waldmann war rasch überzeugt. Er beauftragte einen seiner Ingenieure, ein Produkt nach diesem Ansatz zu analysieren.
Zwei Jahre dauerte der Prozess, dann erhielt die Büroleuchte „Lavigo“ das Cradle-to-Cradle-Zertifikat (C2C). „Je höher der Wertschöpfungsgrad im eigenen Unternehmen ist, desto einfacher ist die Untersuchung“, sagt Unternehmer Waldmann, der Urenkel des Gründers ist. 80 Prozente der Teile der „Lavigo“ werden im eigenen Haus gefertigt.
Ähnlich wie Waldmann ist auch das Familienunternehmen Schüco aus Bielefeld von externen Experten zum Cradle-to-Cradle-Ansatz inspiriert worden.
Stefan Rohrmus, verantwortlich für Nachhaltigkeit beim Systemhaus für Fenster, Türen und Fassaden zuständig, erinnert sich. „Durch die enge Partnerschaft mit Planungsbüros und Architekten haben wir schon immer unser Ohr nah am Markt“, sagt er.
„Wir haben 2015 die Möglichkeit bekommen, Fensterelemente für den Neubau der RAG-Stiftung in Essen zu liefern. Das war eine Chance, als Marktführer ein Zeichen zu setzen und Nachhaltigkeit ganz konkret zu machen“, sagt Rohrmus.
Dass die Immobilien- und Baubranche Vorreiter bei dieser besonderen Kreislaufwirtschaft ist, liegt laut Experten am wachsenden Problembewusstsein in diesem Sektor. Die Baubranche ist der weltweit größte Ressourcenverbraucher, angesichts einer stark zunehmenden Rohstoffverknappung sind Verbände und Firmen alarmiert.
Schüco-Manager Rohrmus sieht noch einen zweiten Aspekt: „Bauen heißt, Jahre vorauszudenken. Gebäude, die wir heute planen, bestimmen, wie folgende-Generationen leben und arbeiten. Unsere Produkte haben also viel längere Lebenszyklen als andere Industriegüter, und dafür wollen wir schon heute Verantwortung übernehmen.“
Die besondere Nachhaltigkeitsstrategie macht sich beim Lampenhersteller Waldmann wie auch beim Systemhaus Schüco derzeit noch nicht in steigenden Umsätzen bemerkbar, dafür aber in einem Image-Vorsprung.
„Der Gebäudeneubau der RAG-Stiftung hat einen Leuchtturmeffekt, was die Werbewirksamkeit angeht“, sagt Schüco-Manager Rohrmus, „und daraus generieren sich langsam auch weitere Aufträge.“ In der Breite der Unternehmen sei Cradle-to-Cradle aber noch nicht angekommen.
C2C als weiter Weg zum Goldstandard
Um eine Zertifizierung nach dem C2C-Produktstandard durch das Cradle to Cradle Products Innovation Institute zu erhalten, werden Produkte nach fünf umfangreichen Kriterien bewertet. Das strengste Kriterium, das die gemeinnützige Organisation mit Sitz in Amsterdam aufgestellt hat, ist die Materialgesundheit der eingesetzten Inhaltsstoffe. Kurzum: Gesundheit und Sicherheit von Mensch und Natur müssen garantiert werden.
Hersteller müssen dazu die Inhaltsstoffe erfassen und toxikologisch bewerten, Grenzwerte und Stoffverbote beachten und Problemstoffe substituieren. „Wenn ein Material Inhaltsstoffe aus der definierten Liste verbotener Stoffe enthält, endet die Prüfung sofort. Es wird keine Zertifizierung erteilt“, sagt Umweltexperte Braungart.
Zudem sind Hersteller angehalten, Produkte mit hohem Wiedernutzungspotenzial zu produzieren. Dazu gehört es, den Anteil von Sekundärrohstoffen zu steigern und Rücknahmeprozesse umzusetzen.
Hinzu kommen drei Kriterien, die sich mit dem Betrieb im Allgemeinen beschäftigten. Sind diese einmal untersucht, können die Ergebnisse immer wieder verwendet werden.
Zum Ersten müssen Hersteller Treibhausgasemissionen erfassen, erneuerbare Energien für Herstellung und Weiterverarbeitung nutzen oder die durch den Energieverbrauch verursachten Emissionen durch Zertifikate ausgleichen.
Zum Zweiten muss das Unternehmen sparsam mit Wasser umgehen. Und zum Dritten sind Audits durchzuführen, um mögliche soziale Problemstände in der Lieferkette zu beheben und soziale Standards sicherzustellen.
Die C2C-Zertifizierung wird in den drei Klassen Gold, Silber und Bronze vergeben, abhängig davon, wie gut die bewerteten Produkte die strengen Anforderungen erfüllen. Das von Schüco beim RAG-Bau eingesetzte Fenstersystem erhielt eine C2C-Zertifizierung in Silber.
Bis heute sind weitere 42 Schüco-Produkte mit dem Silber- und vier mit dem Bronze-Zertifikat ausgezeichnet worden. Waldmanns Lampe „Lavigo“ hat ebenfalls das Bronze-Level erreicht, was dem Inhaber zufolge für ein Produkt in der vorliegenden Komplexität ein sehr gutes Ergebnis ist.
„Man muss sehr tief eintauchen, was etwa die Vorgehensweise der Lieferanten angeht“, sagt Waldmann, dessen Unternehmen als Erster in seiner Branche das Zertifikat erhalten hat. Selbstverständlich seien auch Lieferanten besucht worden.
„Letztendlich ist die Leuchte nur wenig teurer geworden als eine ohne C2C-Zertifizierung“, sagt der 33-Jährige. Inzwischen gibt es bei Waldmann einen festen Mitarbeiter als Cradle-to-Cradle-Beauftragten.
„Das ist keine Eintagsfliege, davon sind wir überzeugt“, sagt der Juniorchef. Bei Schüco sei das Thema eine Two-Men-Show, so Rohrmus. „Wir haben zudem ein Patensystem aufgebaut, sodass wir in jeder Abteilung wie etwa dem Einkauf und der Technik besonders geschulte Ansprechpartner haben.“ Durch dieses Modell sensibilisiere Schüco seine weltweit 4.900 Mitarbeiter für die Wiederverwertbarkeit von Produkten.
Blackbox Lieferkette
Rohrmus empfiehlt Nachahmern den Einstieg in die Materie mit einem umsatzstarken Produkt als Piloten, dessen Erfolgsgeschichte noch lange garantiert ist. Am aufwendigsten ist nach Rohrmus für ein Unternehmen mit geringer Wertschöpfungstiefe die Überprüfung der Inhaltsstoffe der Vorprodukte bei den Lieferanten. „Die Materialgesundheit ist das härteste Kriterium“, sagt Rohrmus.
Ein partnerschaftliches Verhältnis mit den Lieferanten sei ein wichtiger Erfolgsfaktor. „Wenn irgendein Vorlieferant in der Lieferkette die Inhaltsstoffe nicht herausgeben will, weil sie Betriebsgeheimnis sind, dann wird es schwierig.“
Schüco mache immerhin 70 Prozent seines Einkaufsvolumens mit 200 Lieferanten. „Der Lieferantenbaum der Vorkette geht bei uns dann sehr schnell in die Breite.“
Kein Hexenwerk dagegen sei die Datenerhebung der Energieprozesse, etwa wie viel in der Produktion verbraucht wird und wie viel davon aus erneuerbaren Energiequellen stammt.
„Beim ersten Mal kann der gesamte Zertifizierungsprozess ein gutes Jahr dauern.“ Die externen Zertifizierungskosten würden sich für ein komplexes Produkt auf 15.000 bis 20.000 Euro belaufen. Zum Vergleich: Bei einem simplen Produkt wie einem Schraubenzieher schätzen Experten den Aufwand auf rund 5.000 Euro.
Einen gewichtigen Vorteil hatte Schüco bei der Cradle-to-Cradle Zertifizierung: Viele der Systeme des Familienunternehmens basieren auf dem Baukastenprinzip. „Wir konnten deshalb mit Systemgruppen anfangen, statt mit einzelnen Systeme“, sagt Rohrmus.
Vorteilhaft ist für Schüco überdies, dass die Systeme zu über 70 Prozent aus Metallen bestehen. „Wenn sichergestellt ist, dass der Werkstoff bei der Herstellung, Nutzung und auch dem Recycling unbedenklich für Mensch und Natur ist, ist das ein gutes Material“, sagt Rohrmus.
Und das ist bei metallischen Standardlegierungen meist der Fall. Bei dem Piloten sei in einem Kunststoff ein Additiv als potentiell toxikologisch wirksam erkannt worden, das wurde dann ausgetauscht.
Dass Schüco mit seinen Produkten nicht die Gold-Medaille angestrebt habe, liege an einer Aufwand-Nutzen-Abwägung. Die 100-Prozent-Bewertung der Inhaltsstoffe in der Lieferantenkette ist einfach zeit- und ressourcenintensiv und endet in einigen Fällen an der Bereitschaft zur Offenlegung der Rezepturen. „Da können wir dann als Hersteller auch nichts mehr machen.“
Kein Wunder, dass Unternehmen, die viele Kunststoffe in ihren Produkten verwenden, den Cradle-to-Cradle-Ansatz noch nicht verfolgen. „Im Konsumentenbereich sind viele Akteure im Markt, deshalb ist dort die Rückverfolgung einzelner Inhaltsstoffe sehr schwierig“, sagt Rohrmus.
Zudem weisen Experten darauf hin, dass Farben- und Papierhersteller noch vielfach überzeugt werden müssen, die Rezepturen ihrer Produkte offenzulegen. „So kann die Chipstüte in ihrer Bewertung viel aufwendiger werden als ein Fenster, obwohl Erstere viel weniger Inhaltsstoffe aufweist“, sagt Umweltexperte Braungart.