Seit mehr als sechs Jahrzehnten werden in Jügesheim Koffer und Taschen produziert. Heute steht die Marke Stratic vor allem für Leichtigkeit, Qualität und Design „made in Europe“.
Patrick Welsch geht zügig voran. Gleich durch die erste Tür links. „Und hier ist unsere Entwicklungs- und Designabteilung“, sagt der geschäftsführende Gesellschafter. Ein beharrlicher Geruch liegt im Raum. Leder und Synthetik, vielleicht auch noch Imprägniermittel und Leim. Ein undefinierbares Gemisch, das man noch von früher aus dem Schusterladen kennt. Stoffrollen stehen umher, eine Nähmaschine rattert. „Hier entstehen die Vorlagen und die Prototpyen für unsere Kollektionen“, sagt Welsch und deutet auf die hohen Regale an den Wänden. In schmalen Fächern stehen Mappen mit Pappvorlagen und Muster für Kofferhüllen und -futter – es müssen Hunderte sein. Kein Wunder: „Pro Jahr bringen wir vier neue Kofferserien in die Läden und entwerfen mindestens genauso viele Sonderkollektionen für diverse Kooperationspartner und Vertriebspartner“, sagt Chef-Designer Karim Chaouch.
Die Entwicklungsabteilung ist eines der Herzstücke der Stratic Lederwaren Jacob Bonifer GmbH, hier arbeitet jeder fünfte Mitarbeiter aus der deutschen Zentrale. Auf den ersten Blick scheint die Zeit stillzustehen: Vier Mitarbeiter zeichnen, schneiden und fügen Einzelteile von Koffern und Trolleys per Hand zusammen. Der Auszubildende lernt sogar noch das traditionelle Handwerk des Sattlers. Kein Computer weit und breit. Stattdessen liegen Schere, Lineal und Bleistift bereit. Dennoch hat sich seit den Anfängen des Familienunternehmens, das nun bereits in der dritten Generation geführt wird, einiges in der Arbeit verändert: So versuchte Gründer Jacob Bonifer Ende der 1940er Jahre noch, Reißverschlusskoffer mit einem Sperrholzrahmen in Form zu halten. Erst 1957 wurden Metallschlösser eingeführt, und 15 Jahre später wiederum wurde der erste Koffer der Marke Stratic mit Rollen an die Kunden geliefert. 2001 erfand Stratic den Rollenkoffer mit sechs Rollen, der sich in alle Richtungen bewegen lässt. Schieben statt schleppen, eine Innovation, die das Reisen immens leichter machte – und die Spaßkomponente für unterwegs beflügelte.
Vom Auto in den Koffer
Apropos leicht: Da ist sie wieder, die traditionelle Konstante. „In den 1950er Jahren mussten die Koffer leicht sein, weil sie keine Rollen hatten. Heute müssen sie leicht sein, um Zusatzkosten beim Fliegen zu sparen“, sagt Patrick Welsch. Schließlich müssen sich die Kofferhersteller auf die veränderten Reisegewohnheiten der Deutschen einstellen: Während es früher im Auto nach Italien ging, fliegt man heute nach Mallorca. Welsch versichert: „Wir kämpfen um jede 20 Gramm, die ein neues Gepäckstück leichter sein könnte.“ Mit Erfolg: Während ein großer Vier-Rollen-Koffer zu Beginn noch im Durchschnitt sieben Kilogramm auf die Waage brachte, wiegen die aktuellen Spitzenprodukte nur noch knapp drei Kilogramm. Das Modell Agravic – zu Deutsch: schwerelos – fällt sogar nur noch mit 2.000 Gramm ins Gewicht.
Möglich machen dies unter anderem Materialien, die auch beim Automobilbau eingesetzt werden. So wird das Skelett eines Stratic-Koffers aus Glasfaserstäben geformt. Die für die Stabilität des Gepäckstücks wichtige Rückwand besteht aus ultraleichtem Kunststoff, der durch eingelassene Waben verstärkt wird. „ShellTech-Leichtbau-Technologie“ nennt sich diese Bauart, auf die Stratic ein Patent hat. Über das Gerüst wird einfach die weiche Außenhülle gezogen und befestigt, das Gestänge und die Rollen angebracht – fertig. Rund eineinhalb Stunden Handarbeit werden benötigt, bis der neue Reisebegleiter am Ende der Serienproduktion fertigt vom Band kommt.
Doch auch wenn sich die Hersteller einiges von den Automobilbauern abgeschaut haben: „Ein Statussymbol wie das Auto wird der Koffer in der breiten Bevölkerung wohl nie werden“, bedauert Welsch, der zu Hause ein knappes Dutzend der Stratic-Gepäckstücke sein eigen nennt. Beim Kofferkauf schauen die Verbraucher – anders als bei der Anschaffung ihres mobilen Untersatzes – stark auf den Preis. Billigware aus Fernost und der Online-Handel heizen diese Fokussierung zusätzlich an. „Wir können uns nur über die Qualität und das Design vom Wettbewerb abheben“, weiß Patrick Welsch. Letzteres schaffen die Hessen mit Bravour, wie mehrere Auszeichnungen belegen. Zum Beispiel der Deutsche Lederwarenpreis des Bundesministeriums für Wirtschaft für eine Gepäckserie aus Vollrindleder. Oder der renommierte Red Dot Award für den Superleichtbaukoffer Agravic.
Hohe Qualität ist für Stratic dagegen eher eine Selbstverständlichkeit. Zwar werden die einzelnen Komponenten der Gepäckstücke in Asien eingekauft. „Das liegt aber auch daran, dass es in Europa kaum noch Zulieferer gibt“, sagt Welsch und zuckt mit den Schultern. Rund fünf Wochen sind die Container mit den benötigten Stangen, Platten, Rollen und Außenmaterialien auf dem Seeweg unterwegs, bis sie in Jügesheim ankommen und einen ersten Check durchlaufen müssen. Anschließend geht jedes einzelne Teil per Lkw in Richtung Moldawien. Dort wird zusammengebaut – zu Koffern aller Art und Größe, zu Beauty-Cases, Kleidersäcken, Rucksäcken und Reisetaschen. „Die fertigen Waren lagern wir wiederum bei uns“, sagt die zweite Geschäftsführerin, Marina Heinz – und deutet auf die meterhoch gestapelten Kartons im Hintergrund. Schätzungsweise 130.000 Stück befinden sich in den 10.000 Quadratmeter großen Hallen in Jügesheim. Ein wahrer Schatz, der einen immensen Vorteil birgt: „Wenn ein Händler ein Modell nachbestellt, können wir innerhalb von 48 Stunden liefern“, sagt Heinz.
Harte Testbedingungen
Bevor eine neue Serie jedoch in den Verkauf geht, wird sie erst einmal auf Herz und Nieren geprüft. Und die Ansprüche sind hoch: Mindestens 50 Kilometer müssen die vollgepackten Gepäckstücke auf ihren kleinen Rollen zurücklegen können, bevor sich der erste Verschleiß bemerkbar macht. Das Trolleygestänge darf auch nach 5.000-mal Ein- und Ausziehen noch nicht haken und ein 25 Kilogramm schwerer Koffer muss Stürze aus einer Höhe von 1,2 Metern ohne Blessuren aushalten können. Zudem nimmt ein unabhängiges Institut die verwendeten Materialien unter die Lupe und prüft sie auf mögliche Schadstoffe. „Hierfür haben wir ein eigenes Zertifikat – ’schadstoffgeprüftes Reisegepäck‘ – entwickelt, dessen Grenzwerte mitunter strenger sind, als die EU-Richtlinie dies für Kinderspielzeug vorsieht“, erzählt Welsch. Für ein hohes Maß an Qualität sorgen vor allem die 50 Mitarbeiter in der deutschen Stratic-Zentrale: „designed und engineered in Germany“ lautet das Firmenmotto. „Allein unsere Ingenieure können zusammen mehr als 150 Jahre Berufserfahrung nachweisen“, berichtet Welsch und fügt hinzu: „Dieses fachliche Know-how kann uns keiner nehmen.“ Eine Firmenzugehörigkeit von mehr als 30 Jahren ist bei den Hessen nicht selten zu finden. „Die Mitarbeiter sind die Seele unserer Firma“, sagt Welsch. „Die brauchen wir.“
Firmenportrait auf einen Blick:
Reißverschlusskoffer mit Sperrholzrahmen, Einkaufstaschen und Lederhandtaschen – alles auf Kundenanfrage gefertigt. So startete 1946 Jacob Bonifer sein Unternehmen. Zwischenzeitlich arbeiteten rund 700 Menschen für das Unternehmen, das unter anderem große Warenhäuser wie Hertie oder Karstadt belieferte. Doch deren Insolvenzen zwangen die beiden Geschäftsführer in der dritten Generation, Marina Heinz und Patrick Welsch, die Unternehmensstrategie umzubauen: Während die Zentrale im hessischen Jügesheim vor allem für die Entwicklung, die Auslieferung und den Service zuständig ist, arbeiten rund 550 Mitarbeiter an verschiedenen Standorten in Europa für die Fertigung. Stratic-Produkte sind heute in zahlreichen Ländern Europas sowie im Nahen und Fernen Osten erhältlich.