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Friederike Welter IfM Bonn

© IfM Bonn

Kaum jemand kennt den deutschen Mittelstand besser als Friederike Welter. Die Einschätzungen der Präsidentin des Instituts für Mittelstandsforschung Bonn haben Gewicht – genau wie ihre Vorschläge, um den Beitrag von Familienunternehmen zu Innovationen, Wachstum und zu gesellschaftlichem Zusammenhalt weiter zu stärken.

 

Frau Welter, Sie forschen seit Jahren zum Thema Mittelstand. Gibt es einen Schlüsselmoment, der Ihr Interesse geweckt hat?

Friederike Welter: Ja, einen solchen Moment gibt es durchaus: Während meines Studiums an der Universität Wuppertal besuchte ich ein Seminar zum Thema „Der informelle Sektor in den Entwicklungsländern“.

Zuvor hatte ich mir keinerlei Gedanken darüber gemacht, ob es generell Unterschiede zwischen kleinen und großen Unternehmen gibt. Ab diesem Zeitpunkt begann ich mich dafür zu interessieren, warum beispielsweise die einen neu gegründeten Unternehmen kontinuierlich wachsen – und andere nicht.

 

Ist Ihre Beziehung rein akademisch oder haben Sie Verbindungen in den Mittelstand, etwa durch frühere Tätigkeiten oder die Familie?

Mein Vater war freiberuflich tätig – als Steuerberater und Miteigentümer einer Gemeinschaftskanzlei, die viele mittelständische Unternehmen beraten hat. Im Nachhinein betrachtet, waren unsere Gespräche am Mittagstisch eine erste Lektion in Sachen Mittelstand.

Vor allem Reisen haben dann mein Interesse am Unternehmertum verstärkt: In Ghana war ich im Rahmen eines studentischen Praktikums in einem Kleinunternehmen tätig. Für meine Doktorarbeit habe ich in Nigeria zu informellen Unternehmen und der dortigen Mittelstandspolitik geforscht.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion konnte ich sozusagen im Reallabor die Entstehung und Entwicklung von Unternehmertum mitverfolgen und bei mehreren Forschungsprojekten in vielen dieser Staaten analysieren.

Zur Person

Prof. Dr. Friederike Welter ist Präsidentin des Instituts für Mittelstandsforschung (IfM) Bonn und Professorin für Management von kleinen und mittleren Unternehmen und Entrepreneurship an der Universität Siegen. Für ihre Forschung ist die 59-jährige Ökonomin jüngst mit der Aufnahme in die renommierte Academia Europaea ausgezeichnet worden, bereits seit 2020 gehört sie zum Kreis der 21st Century Entrepreneurship Research Fellows. Welter ist Mitglied im Mittelstandsbeirat des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, Vorsitzende des EXIST-Sachverständigenbeirats sowie Vorsitzende des Gutachterkreises „Validierung des technologischen und gesellschaftlichen Innovationspotenzials wissenschaftlicher Forschung“ beim Bundesministerium für Bildung und Forschung.

Der Mittelstand gilt als ein typisch deutsches Phänomen. Sieht man es im Ausland genauso?

Unbedingt. Nicht umsonst versucht die Politik in vielen anderen Staaten das Mittelstandsmodell zu kopieren. In Großbritannien wurde sogar ein eigenes Wort für den britischen Mittelstand geprägt – der „Brittlestand“.

Wir wissen, dass der Erfolg des Mittelstands auch auf seiner regionalen Verankerung und auf der langfristigen Ausrichtung beruht.

Unternehmertum muss daher immer abhängig von den jeweiligen Rahmenbedingungen und auch der historischen Entwicklung der Wirtschaftsstruktur betrachtet werden – und beides ist in vielen Staaten nun einmal anders als in Deutschland.

 

Wenn Sie Inhabern im Mittelstand begegnen: Gibt es typische gemeinsame Merkmale?

Wir haben diese Frage vor zwei Jahren wissenschaftlich aufgegriffen – und festgestellt: Es gibt sie. Ein wesentliches Merkmal ist ihr Wunsch nach Unabhängigkeit.

Zugleich sind ihnen aber auch die Zufriedenheit ihrer Beschäftigten und ökologische Ziele deutlich wichtiger als beispielsweise bei angestellten Managern.

 

Corona-Pandemie, Digitalisierung, ökologische Ziele. Sie beschreiben die Herausforderungen für den Mittelstand als enorm. Wie wird das in den Unternehmen wahrgenommen – als Risiko oder auch als Chance?

In der Corona-Pandemie haben sich die Familienunternehmerinnen und -unternehmer sehr schnell auf die sogenannte neue Normalität – sprich Abstandsvorgaben, Hygieneregeln und Maskenpflicht – eingestellt. Auch die Digitalisierung wird inzwischen als chancenreicher Innovationstreiber angesehen.

Das war vor gut fünf Jahren noch anders, wie unsere regelmäßigen Befragungen für das Zukunftspanel Mittelstand zeigen. 2015 maß die mittelständische Wirtschaft der Digitalisierung noch einen deutlich niedrigeren Stellenwert bei als die Wirtschaftspolitik.

 

Was müssen Firmenchefs tun, um nun die Weichen für eine erfolgreiche Zukunft zu stellen?

Gerade das Vorgehen vieler Familienunternehmerinnen und -unternehmer während der Corona-Pandemie sehe ich als exemplarisch für den Mittelstand an, der sich sehr gut den zukünftigen Herausforderungen stellen kann:

Es zählen Kreativität, Flexibilität und der Wille beziehungsweise der Wunsch, nicht aufgeben zu müssen. Viele Mittelständler haben während der Pandemie ihr Geschäftsmodell teilweise erheblich umgestaltet und zum Beispiel aktiv nach neuen Märkten und Lieferanten gesucht.

 

Die Mittelstandsstrategie des Bundeswirtschaftsministeriums, in dessen Beirat Sie tätig sind, setzt auf „Wertschätzung, Stärkung, Entlastung“. Sind das die richtigen Schwerpunkte?

Definitiv. Wertschätzung ist auf jeden Fall wichtig – schließlich sind viele Familienunternehmerinnen und -unternehmer in Deutschland stolz darauf, dem Mittelstand anzugehören. „Stärkung“ betont den enormen Beitrag des Mittelstands für unsere Wirtschaft und Gesellschaft. Und die Bürokratiebelastung des Mittelstands ist in der Tat ein Dauerbrenner.

Gerade auch in der Corona-Pandemie oder für eine klimaneutrale Wirtschaft ist diese Entlastung wichtig. Prinzipiell sollte die Mittelstandspolitik jedoch ordnungspolitisch handeln und vor allem den Rahmen für den Mittelstand gestalten.

 

Erkennen Sie bei der Frage der Bürokratie eine Veränderung zum Besseren?

In den vergangenen Jahren gab es durchaus Bürokratieentlastung seitens der Bundesregierung. Unternehmerinnen und Unternehmer sehen dies jedoch skeptischer.

Sie verstehen unter Bürokratie viel mehr, als die Politik beeinflussen kann, und zählen auch halböffentliche Vorgaben von Selbstverwaltungsorganisationen der Wirtschaft, Normungsinstituten oder Berufsgenossenschaften dazu. Hier jedoch hat die Politik kaum Einfluss.

Deshalb müssen wir auch die nicht-staatlichen Institutionen wie Kammern und Berufsgenossenschaften dafür sensibilisieren, ihre bürokratischen Vorgaben zu entschlacken.

 

Ganz grundsätzlich: Hat die Große Koalition das Richtige für den Mittelstand getan?

Natürlich. Die Unterstützung des Mittelstands während der Corona-Pandemie sucht ihresgleichen in Europa: Nothilfen zur Bewältigung der unmittelbaren Pandemiefolgen, neue Programme, sobald neue Notlagen ersichtlich wurden, aber auch wichtig – mit Blick auf den Weg aus der Krise –, das 2020 verabschiedete Konjunkturprogramm sowie die Unterstützung des Strukturwandels.

 

Und was könnte oder sollte eine künftige Regierung besser machen?

Wir mahnen seit längerem an, dass Mittelstandspolitik als Querschnittsaufgabe verstanden werden sollte. Sobald ein Gesetz initiiert wird, sollten in allen involvierten Ministerien die Belange des Mittelstands mitberücksichtigt werden.

Insbesondere jedoch Maßnahmen, die mit Kosten für die Unternehmen einhergehen – wie beispielsweise in der Energie- und Klimapolitik.

 

Mit Blick auf die Digitalisierung dominieren US-Tech-Konzerne und chinesische Unternehmen die globalen Märkte. Ist das mittelständische Deutschland auf diesem wichtigen Zukunftsfeld zu träge?

Nicht unbedingt: Im B2C-Segment – also der Bereich, der jedem von uns im Alltag begegnet – dominieren US-amerikanische und asiatische Unternehmen.

Anders bei B2B-Anwendungen: Hier haben etablierte Unternehmen und Start-ups aus Deutschland spannende digitale Lösungen entwickelt, zum Beispiel für datenbasierte Dienstleistungen.

Es gibt also berechtigte Hoffnung, dass auch mittelständische Unternehmen aus Deutschland hier eine zunehmend wichtigere Rolle spielen.

 

Gerade erst beklagte der Startup-Verband die rückläufige Zahl der Ausgründungen aus Forschungseinrichtungen – ein Grund sei die fehlende Freigabe von Patentrechten. Stellt sich Deutschland beim Versuch aufzuholen selbst ein Bein?

Nein, das sehe ich anders. Nicht alle Patentrechte müssen freigegeben werden. Dies beginnt früher: An den Hochschulen liegen noch viel zu viele Erfindungen und gute Ideen brach und werden nicht in Gründungen umgesetzt.

Ich kann Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler daher nur ermutigen, ihre innovativen Forschungsergebnisse auch wirtschaftlich zu verwerten.

 

Sie haben auch den gesellschaftlichen Nutzen erforscht, den Familienunternehmen erbringen. Können Sie dazu einige Beispiele nennen?

Der Mittelstand ist eher langfristig orientiert und vermittelt deshalb Werte wie Verbindlichkeit und Verlässlichkeit. In Krisenzeiten stabilisieren Familienunternehmen die Gesellschaft und Wirtschaft.

Nur ein Beispiel: Während einzelne Großkonzerne zu Beginn der Corona-Pandemie ihre Mieten nicht mehr zahlen wollten oder Werke vorübergehend schlossen, versuchten viele Familienunternehmen die Arbeitsplätze ihrer Belegschaft zu erhalten – trotz persönlicher finanzieller Einbußen.

 

Wenn Sie Ihre Forschungsarbeit betrachten – gibt es etwas, das Sie selbst vom Mittelstand gelernt haben?

Ja, das gibt es in der Tat. Frei nach Einstein: Sehe nicht die Schwierigkeit, sondern eine neue Gelegenheit.