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Creditreform

© Wildling Shoes

Freiheitsliebend und minimalistisch: Beim Minimalschuh-Her­steller Wildling leben Produkt und Arbeitsethos in perfekter Harmonie. Homeoffice ist normal, schon immer. Gründerin Anna Yona wurde so in der Corona-Krise zur gefragten Ratgeberin.

 

Die Stimmung war gedrückt bei diesem virtuellen Meeting im März. Alle 135 Mitarbeiter hatten sich im Chat-Raum versammelt, die Mikrofone auf stumm geschaltet. Anna Yona, Gründerin des Minimalschuh-Herstellers Wildling Shoes übernahm das Wort.

Die Chefin erklärte die bedrohliche Lage, assistiert vom Liquiditätsplaner und von Mitarbeitern des „People & Culture“-Teams. An den Laptops mit den lustigen Fuchslogos wussten alle: Die Corona-Krise hatte den Fuchsbau erreicht – es könnte existenziell werden. Im Fall einer totalen Ausgangssperre, so die Worst-Case-Kalkulation, hätte man acht Wochen Liquidität. Maximal.

„Wir können nicht absehen, wohin es in dieser Krise geht“, war Yonas erste Botschaft ans Team. „Aber habt keine Angst, wir halten zusammen“, war die zweite. Immerhin: Homeoffice anordnen, das war nicht nötig. Dezentrales Arbeiten ist Wildling-Prinzip – seit Stunde null.

Auch Kurzarbeit, bei vielen Firmen das Mittel der Wahl, wurde im Krisenmeeting nur als Möglichkeit genannt. „Wir wollten das gesamte Team authentisch und transparent vorbereiten“, sagt Anna Yona rückblickend.

Es ist Ende März, als die Unternehmerin eine vorsichtige Zwischenbilanz zieht. Noch immer ist vieles unklar, medizinisch und ökonomisch, natürlich auch in Engelskirchen, dem Sitz des in Startup-Kreisen gefeierten Schuhherstellers Wildling.

Yonas drei Kinder toben im Garten. Die Stimmung: „Völlig merkwürdig, die Zeit vergeht viel langsamer. Aber bei uns wächst gerade wieder die Zuversicht, dass wir es auch ohne Kurzarbeit schaffen“, sagt sie.

 

Expansion liegt vorerst auf Eis

Fünf Jahre ist Wildling mit seinen federleichten Minimalschuhen am Markt, die gesundes Barfußgehen simulieren sollen. Es ist eine mustergültige Wachstumsstory einer Direct-to-Consumer-Marke, getragen von einer begeisterten Community.

„Der krasse Einbruch in der zweiten Märzwoche zeigte sich im Onlineshop – minus 30 Prozent in allen Ländern“, sagt Yona. „Wir wussten: Die Welle rollt.“ Dabei standen alle Zeichen auf Expansion: Das Lager in einer alten Spinnerei in Engelskirchen war prall gefüllt mit der in Portugal produzierten Sommerware, alles bereit für den Abverkauf.

150.000 Paar Schuhe waren es 2019, in diesem Jahr sollten es 280.000 Paar werden. Eigentlich. „Wir planen nun wieder mit dem Vorjahresniveau, vielleicht kommen wir etwas drüber“, sagt die 41-Jährige.

Yonas Hoffnung, dass ihr junges Unternehmen nicht aus der Bahn geworfen wird, gründet auf mehreren Faktoren: einer schnellen Reaktion, einer ungewöhnlich loyalen Kundschaft, echtem Teamgeist – und einer ohnehin schon schlanken Unternehmensführung, die Wert auf Fairness und Ausgewogenheit legt.

Jeder, der bei Wildling Vollzeit arbeitet, verdient mindestens 30.000 Euro brutto im Jahr. „Mein eigenes Gehalt ist gedeckelt, ich kann es nicht im Egotrip erhöhen“, sagt die Inhaberin. „Falls wir Kurzarbeit hätten anmelden müssen, wäre Freiwilligkeit unser erster Ansatz gewesen. Also: Wer kann von sich aus kürzen – und wie viel?“

Aus dem Team, so Yona, kamen viele positive Rückmeldungen und Hilfsofferten. „Mancher fragte sogar, wie er die letzte Reisekostenabrechnung stornieren könne.“

Um zu vermitteln, wie Wildling tickt, berichtet Yona von den Anfängen. Mit 21 Jahren ging sie nach Tel Aviv, eigentlich mit dem Ziel, Journalistin zu werden. Sie studierte englische Literatur, Nahostgeschichte – aus dem Studientrip wurden zwölf Jahre Israel. Dort lernte sie ihren Mann Ran kennen, einen Sporttherapeuten und Betreiber eines Fitnessstudios, der Marathons lief – und zwar barfuß.

Kein Spleen, sondern eine Philosophie: „Dick gepolsterte Schuhe als künstlicher Schutz verleiten dazu, zu große und heftige Schritte zu machen“, sagt Anna Yona. „Barfuß bekommt man besseres Feedback vom Boden.“ Je mehr Zehenfreiheit und je weniger Absatz, desto besser für Gleichgewichtssinn und Reaktionsfähigkeit. „98 Prozent der Kinder kommen mit gesunden Füßen auf die Welt, doch nur ein Fünftel der Erwachsenen hat noch gesunde Füße.“

 

Barfußgänger im Kopf

Also sollten auch die Kinder des Paares in Israel so viel barfuß flitzen wie nur möglich. „Teilweise tun sie es auch hier in Deutschland. Einmal im Supermarkt, auch mein Mann war barfuß dabei, haben andere Kunden aus Mitleid Lutscher geschenkt und wollten ihre Payback-Punkte spenden.“

Yona lacht. Ihr Mann sei „Barfußgänger auch im Kopf“, sagt sie belustigt. Strukturen seien nichts für ihn. „Er ist der Visionsgeber, immer unkonventionell, ein toller Sparringspartner für mich.“ Im Unternehmen sei Ran hinter den Kulissen zu finden, weil er sich stärker um die Familie kümmere. „Es ist ein Rollentausch, auch gegenüber unserer Zeit in Israel, als er das Fitnessstudio betrieben hat.“

 

In kleinen Schritten voran

Nach dem Familienumzug 2013 in Annas alte Heimat nahe Köln, reifte die Idee, eine Schuhfirma zu gründen. Motto: „So wenig Schuh wie möglich.“ Eine Bankmitarbeiterin glaubte an das Minimalschuh-Konzept mit anatomischer Passform und hochflexibler Sohle – und bewilligte den ersten Kredit.

In Pirmasens ließen sich die Gründer ins Schuhmacher-Handwerk einweisen – und lernten so auch die Grenzen des Machbaren kennen. Nach zwei Jahren intensiver Entwicklungszeit war schließlich die Produktionsstätte gefunden: Ein Familienbetrieb in Portugal fertigt die Schuhe aus möglichst reinen Naturstoffen von Baumwolle über Kork, Hanf, Moleskin bis zu Wolle.

Flexibel bleiben, kleine Schritte machen – das gilt auch für die Unternehmenskultur: „Wir sind zwar von der Größe her Mittelstand, aber doch ein junges, agiles Unternehmen“, so Yonas Einschätzung. So fällt auch Umplanen leicht: „Als wir loslegten, hatten wir es nur auf Kinderschuhe abgesehen, daher auch der Fuchs als Markenzeichen.

Doch während der Crowdfunding-Kampagne fragten schon so viele nach Erwachsenen-Größen, dass wir uns schnell anders entschieden.“ Wildling-Schuhe gibt es nun für jedes Alter, Größe 18 bis 48. Viele Erwachsene, sagt Yona, bekämpften mit der Umstellung auf Barfußschuhe wirksam ihre Schmerzen im gesamten Bewegungsapparat.

 

Remote von Anfang an

Keinen Kompromiss macht die junge Mutter bei der Art zu arbeiten: „Wenn ich täglich nach Köln pendeln müsste, wäre mein Tag verdorben“, bekennt Yona. „Wir haben vom Start weg dezentrale Strukturen geschaffen, die uns nun in der Krise längst vertraut sind.“

Anna Yona sitzt bei den üblichen Videokonferenzen vor einem Gemälde ihrer Schwester, das einen lichtdurchfluteten Raum zeigt. Für die Kinder hat sie kleine Arbeitsplätze in ihrer Nähe eingerichtet. All das wirkt harmonisch und entspannt, trotz der bedrohlichen Nachrichten da draußen.

Wie das „Remote“-Arbeiten funktionieren kann? „Klare Strukturen helfen enorm.“ Das Wissen teilt Anna Yona in Krisenzeiten mit anderen, sie nimmt sich Zeit, digitale Co-Working-Tools zu erklären – und die flankierende Haltung. „Wir haben eine Vision quasi als Nordstern definiert, unsere Werte dienen als Leitplanken und helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen“, sagt Yona.

„Wir haben vom Start weg flexible Strukturen geschaffen, die uns nun in der Krise längst vertraut sind.“

Anna Yona, Wildling Shoes

Ein „Know-how Event“ des Nürnberger Inkubators Zollhof mit Yona als Gastrednerin lockt über 100 Online-Teilnehmer an. Die lassen sich schildern, wie Wildling es mit der „OKR-Managementmethode“ schafft, Klarheit in jeden Arbeitsbereich zu transportieren.

Jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin kann anhand von fünf gemeinsam verabschiedeten Zielen (Objectives) die Arbeit in Vier-Monats-Sprints herunterbrechen und entsprechende Erfolgstreiber (Key Results) definieren. „Produktivität ist keine Frage von Anwesenheit. Und Ergebnisse werden nicht durch Kontrolle besser“, so das Credo der freiheitsliebenden Wildlinge.

 

Recruiting: bundesweit

Viele Mütter schätzen die Flexibilität, die Wildling als Arbeitgeber bietet: Davon zeugen der Frauenanteil von rund 80 Prozent – und zig Initiativbewerbungen. „Unser Wahnsinnsvorteil: Wir können deutschlandweit nach Mitarbeitern suchen und das Team auch räumlich schnell skalieren“, sagt Yona. Teure Themen wie Bürosuche und Umzüge bleiben erspart.

Damit man sich nicht nur in Google-Videokonferenzen sieht und bei Slack und Asana einander befeuert, beruft Wildling alle acht Wochen ein physisches Townhall-Meeting ein. „Dann reisen alle Mitarbeiter per Bahn nach Engelskirchen, wo wir einen größeren Altbau für unsere Zwecke umgebaut haben, sogar mit Schlafplätzen.“ Es gehe familiär zu, manche übernachteten auch bei Kollegen. Bis auf weiteres freilich wurde die Vollversammlung coronabedingt ins Netz verlagert.

„Für uns war das Schwierigste die Unsicherheit, wie lange der Ausnahmezustand dauern würde“, sagt Yona. „Normalerweise springt ja sofort ein Problemlösemodus an. Doch niemand wusste, worauf man sich einzustellen hat.“ Vorsichthalber wurden die Produktion runtergefahren und die Materialbestellungen gedrosselt. Auch die gerade 2019 eröffneten Showrooms in Köln und Berlin mussten vorübergehend schließen.

Im Lager des Onlineversands arbeiten zwei Teams getrennt, um in einem Quarantäne-Fall lieferfähig zu bleiben. Auch ein vielversprechendes Büro-Experiment in New York wurde gestoppt. „Die USA sind schon jetzt unser viertwichtigster Markt. Wir wollen dort Tempo aufnehmen über Kooperationen mit Influencern.“ Das sei nun erst mal aufgeschoben.

Wildling plant vorerst für ein Szenario, wonach es „Anfang 2021 wieder besser geht“. Ein Muntermacher: Nach der ersten schockhaften Zurückhaltung meldeten sich loyale Kunden, erkundigten sich persönlich nach der Situation des Unternehmens – und orderten wieder Schuhe im Netz.

Yona macht sich Mut: „Wir sind ja auch kein Luxusartikel. Und wer einmal einen Barfußschuh getragen hat, kommt nicht mehr davon los.“ Das weiß sie aus eigener Erfahrung. „Hochhackiges ziehe ich nicht mehr an.“

 

Das Unternehmen

Anna und Ran Yona haben Wildling Shoes im Jahr 2015 in Engelskirchen bei Köln gegründet. Das Unternehmen konzipiert Schuhe, die dem Barfußlaufen möglichst nahe kommen. Viele Kunden sind Fans der ersten Stunde: Eine im August 2015 aufgesetzte Crowdfunding-Kampagne erreichte das Funding-Ziel von 15.000 Euro in nur 24 Stunden.

 

„Schon im ersten Verkaufsjahr waren wir profitabel“, sagt Anna Yona. Gefertigt wird bei einem Familienbetrieb in Portugal, der Vertrieb erfolgt per Onlineshop, für die Markenbekanntheit bespielt Wildling soziale Kanäle. 25 der 135 Mitarbeiter sind in der Logistik tätig und versenden die Ware aus Engelskirchen in alle Welt.

 

Alle anderen arbeiten republikweit im Homeoffice – die dezentrale Organisation spart Kosten, erhöht die Flexibilität und ist familienfreundlich. Der Umsatz liegt nach Unternehmensangaben „im unteren achtstelligen Bereich“, 2019 verkaufte Wildling rund 150.000 Paar Schuhe. Trotz Corona-Krise könnte die Zahl auch 2020 erreicht werden.