Der E-Bike-Hersteller Riese & Müller verdoppelt sein Geschäft alle zwei Jahre. Die Gründer haben aus einer Garagenfirma binnen 25 Jahren einen weltweit renommierten High-End-Anbieter geformt. Mit Überzeugung, Mut zur Lücke – und einer großen Portion Empathie.
Wer Handwerk liebt, möchte hier gleich mit anpacken: Zangen, Schlüssel, Akkuschrauber liegen fein säuberlich bereit, ein leichter Gummiduft vom Reifenlager nebenan verrät: Hier geht es um Fahrräder. Genauer: um E-Bikes. Ein Kabelbaum, der aus einem unfertigen Rahmen lugt, verrät diese Besonderheit. Mit wenigen Worten stimmen sich die Mechaniker ab. Ist jemand fertig mit seinem Montageschritt, schiebt er den Rahmen, der an einem Rondell baumelt, einen Arbeitsplatz weiter. Das wirkt lässig und konzentriert zugleich.
Es sind bunt lackierte Objekte der Begierde, die hier Schritt für Schritt in Weiterstadt bei Darmstadt entstehen. Jedes Rad ist vorbestellt und individuell konfiguriert. Lieferzeit: sechs Wochen. Wer ein Riese & Müller-Rad bestellt, der weiß, was er will: Qualität, ohne Abstriche. Es wird großer Wert auf Funktionalität und Verarbeitung gelegt, der Eigenfertigungsanteil ist ungewöhnlich hoch. So werden selbst die Laufräder in Weiterstadt von Hand eingespeicht – und danach in 100.000 Euro teuren Apparaten auf den perfekten Rundlauf überprüft.
Heiko Müller hat den besten Überblick über das Schrauberparadies: Wenn er aus seinem Büro tritt, steht der Co-Gründer auf einer Empore im zweiten Stock der Halle und könnte einen Moment stolz sein, wenn er nicht so viel zu tun hätte. Hinzu kommt: Der 51-jährige Diplom-Ingenieur ist nicht der Typ für Selbstbeweihräucherung. Ebenso wenig wie Markus Riese, sein Freund und Weggefährte. Die beiden kennen sich schon aus dem Maschinenbaustudium an der TU Darmstadt. Über die Jahre haben Müller und Riese eine Arbeitsteilung aufgebaut – obwohl beide dieselbe technische Ausbildung haben. „Markus ist der Tüftler, unser Daniel Düsentrieb, der auch mal 14 Tage abtaucht, und dann mit etwas Genialem wieder aufkreuzt“, sagt Müller. Er selbst halte die Fäden im Operativen zusammen – und kümmere sich um die Zahlen.
Expansion mit Ansage
Die Nachricht, dass bei Riese & Müller bis ins letzte Detail durchdachte E-Bikes gebaut werden, hat sich in alle Erdteile herumgesprochen. „Der Markt für E-Fahrräder wächst um 15 Prozent im Jahr, wir liegen massiv drüber“, sagt Müller. Die Wachstumsraten klingen unreal: Im letzten Geschäftsjahr sprang der Umsatz um 67 Prozent auf 65 Millionen Euro. „Im laufenden Jahr, das Ende Juli endet, werden wir deutlich über 100 Millionen Euro liegen.“ Im Januar 2019 wird die Fertigung in eine größere Halle umziehen. Die heimatverbundenen Darmstädter bauen zehn Kilometer entfernt neu – bereits mit Erweiterungskapazitäten in der Hinterhand. „Den Umzug nutzen wir als Chance, um jeden Prozess auf links zu drehen“, sagt Riese, der Optimierer.
Bemerkenswert ist nicht nur das Wachstumstempo, das seit 2010 bei über 50 Prozent liegt. Sondern: Die Expansion ist nicht einfach so passiert, sondern volle Absicht. „Wir haben uns entschieden, als Premiumhersteller eine weltweit führende Rolle bei E-Bikes und E-Cargo-Bikes spielen zu wollen“, sagt Müller. „Europa ist uns zu klein geworden.“ Der Partner-Händler in San Francisco sei der drittgrößte weltweit. Jede Woche wird im hinteren Hallenteil ein Container für Übersee gepackt. „Sehr stark wachsen wir in den USA, Kanada, Australien und Südkorea“, sagt Müller.
Der Aufschwung der Weiterstädter Fahrradfirma hängt mit einer richtungsweisenden Entscheidung zusammen: „Im Jahr 2012 haben wir beschlossen: Wir setzen voll auf E-Bikes. Die normalen Räder schleppen wir nicht mehr mit“, erinnert sich Müller. Sie waren auch ohne Motor sehr beliebt wegen ihrer Vollfederung, einer Spezialität der Firma. „Alle Entscheidungspower, alle Vertriebspower ging auf den Elektroantrieb – verbunden mit der Ansage, eine führende Rolle zu übernehmen.“ Heiko, jetzt drehst du durch – diesen Satz habe er damals öfter zu hören bekommen. „Viele, auch in der Firma, meinten, wir nähmen den Mund zu voll. Aber uns war im Führungsteam klar, dass wir wachsen und überall vertreten sein müssen, um langfristig eine Chance zu haben.“
Gesund wachsen? So geht’s!
Eine wichtige Rolle spielte an diesem Punkt auch Müllers Ehefrau Sandra Wolf, die als Strategie- und Markenberaterin ihr Geld verdiente. Zu ihren Klienten zählten Markenartikler, auch einige Fahrradfirmen, darunter Riese & Müller. 2013 stieg sie als dritte Geschäftsführerin ein. Zuständig ist sie vor allem für Strategie- und Personalfragen. „Wachstum bedeutet sehr viel Veränderung, und wir wollen gesund wachsen“, sagt Wolf.
In diesem Jahr stieg die Produktion von 30.000 auf 45.000 Räder. Um die Menge derart hochfahren zu können, und dennoch die Qualität nicht zu verwässern oder versierte Mitarbeiter über Gebühr zu belasten, geht Riese & Müller behutsam vor. Jeden Monat kommen 15 Mitarbeiter neu hinzu – und werden auch dank eines Integrationsbeauftragten („Teamer“) planvoll herangeführt. Es bleibt bei festen Grundsätzen: Keine Wochenendarbeit und ein familienfreundliches Einschichtsystem von sieben bis 16 Uhr für alle aktuell 350 Beschäftigten, die 27 verschiedenen Nationen angehören.
„Der Ursprung unserer Marke ist Freundschaft und gegenseitige Wertschätzung“, sagt Wolf. Ein offener Umgang ist selbstverständlicher Bestandteil der Unternehmenskultur. Jeder duzt jeden, auch die Chefs sind in Turnschuhen und T-Shirt unterwegs – und wären optisch nicht von der Mannschaft zu unterscheiden. „Wir sind nun mal als Startup groß geworden – und dieses Gefühl bewahren wir uns“, sagt Markus Riese. Die Geschichte von Riese & Müller hat eng zu tun mit dem Eintreten für Überzeugungen und Werte. „Wir verstehen uns als Wegbereiter einer neuen Mobilität“, sagt Wolf. Indem man dem Fahrrad einen permanent verfügbaren Rückenwind einbaut, vergrößert sich die Reichweite. So wird das E-Bike zur unmittelbaren Alternative zum Auto. „Ein Elektroauto steht im gleichen Stau wie alle anderen. Viele entscheiden sich da lieber für unsere s – zumindest als Zweitwagenersatz“, sagt Müller.
Unterwegs mit kleinem Besteck
Die Lastenesel haben vorne auf einer Ladefläche nicht nur Platz für den Wocheneinkauf oder kleine Kinder, sondern können sogar bis zu acht Kisten Bier transportieren. „Vor fünf Jahren konnte sich noch niemand vorstellen, welche Bedeutung das elektrisch unterstützte Lastenrad in der Alltagsmobilität einnimmt“, sagt Müller. Draußen auf dem Mitarbeiterparkplatz sieht man fast nur noch solche länglichen Gefährte. „Noch ist das vor allem ein Familienthema. Aber Lastenräder mit Elektrounterstützung sind auch für Handwerker wie etwa Schornsteinfeger ideal, die mit kleinem Besteck unterwegs sind – und ihre Zeit nicht mit Parkplatzsuche verschwenden wollen.“
An Visionen mangelt es nicht und der Trend zum Rad mit E-Motor hält an. 3,1 Millionen E-Bikes zählte das Statistische Bundesamt Anfang 2017 in Privathaushalten – fast eine Verdopplung seit 2014. „Als wir 2008 unsere ersten E-Bikes bauten, hatte die Produktkategorie ein Rentnerimage“, sagt Müller. „Da haben wir auch im Marketing voll gegengehalten, heute ist das Einstiegsalter bei etwa 30 Jahren. Dass man beim Preis nicht mitmischt im üblichen Segment von 2.000 bis 3.000 Euro, sei kein Problem. Für Qualität werde mehr gezahlt. „Nicht unsere Einstiegsmodelle verkaufen sich am besten, sondern die stärkste Preisklasse ist die zwischen 4.000 und 5.000 Euro.“
Handarbeit trifft digitales Denken
In Zukunft will der Hersteller auch nach dem Kauf stärker mit dem Fahrer verbunden bleiben. „Bei uns war die Denkweise schon immer fahrerzentriert. Das gilt nun auch für die Digitalisierungsansätze“, sagt der 50-jährige Riese. So wird künftig ein eigener Diebstahlschutz angeboten. Basis ist ein GPS-Chip, der im Motor verbaut ist. Wird das Rad gestohlen, ist es auffindbar. Falls doch nicht, wird es durch Riese & Müller ersetzt, so der Plan. Ab 79,90 Euro im Jahr solle der Service kosten. Auch mit einer App betritt Riese & Müller Neuland.Sie soll helfen, das E-Rad in den kombinierten öffentlichen Nahverkehr einzubauen und Nutzern beispielsweise routenbasierte Fahrzeitprognosen geben.
Längst werden die Großen aufmerksam: Der Fahrdienstvermittler Uber will nun in Berlin und anderen europäischen Städten in den Verleih von Elektrorädern einsteigen. Wann greifen die Autohersteller an? Müller klingt selbstbewusst: „Seit 20 Jahren hört man schon: Die Autobranche müsse nur einmal Schnipp machen und fegt alles weg. Aber bisher sind alle Ansätze technologisch gefloppt.“ Auch Markus Riese hält den Erfahrungsvorsprung für gravierend: „Ein E-Bike ist kein Fahrrad mit Motor, man muss das Konzept neu denken.“ Es ist diese Balance aus Konsequenz und Entspanntheit, Fairness und Leistungswillen, Handarbeit und digitalem Denken, das die Weiterstädter zu authentischen Weltverbesserern macht. Es geht immer bergauf, bei Bedarf eben mit Motor. Nur eine Frage bleibt offen: Wieso heißt es nicht Müller & Riese, wie es das Alphabet nahelegen würde? „Ach“, sagt Müller. „Wir dachten, dass man uns andersherum besser im Telefonbuch findet.“
Vom Faltrad- zum E-Bike-Pionier
- Als Maschinenbaustudenten der TU Darmstadt tüftelten Markus Riese und Heiko Müller an einem vollgefederten Faltrad für Pendler.Die erste Investition war eine 10.000 Mark teure Aluschweißanlage.
- In der Garage von Müllers Elternhaus entwickelte das Duo einen Rohling, dessen Federungsachse zugleich das Faltgelenk darstellte. Müllers Freundin schlug den Namen „Birdy“ vor. 1995 begann der Verkauf. Heute ist das Birdy aus nostalgischen Gründen noch im Programm, trägt aber nur noch ein Prozent zum Umsatz bei, der bei über 100 Millionen Euro liegt.
- Im Geschäftsjahr 2017/18 verkauft das Unternehmen mit rund 350 Mitarbeitern rund 45.000 E-Bikes, E-Cargo-Bikes und Falträder. Seit 1998 wirtschaftet man nach Angaben der beiden Eigentümer profitabel und reinvestiert einen Großteil der Gewinne in Wachstum.
- 2008 begann Riese & Müller mit dem Bau von E-Bikes. 2012 kamen die E-Lastenfahrräder hinzu. Sandra Wolf stieg 2013 als dritte Geschäftsführerin ein – sie kümmert sich heute maßgeblich um die Expansionsstrategie und Internationalisierung.
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