Die Kunden des Sportartikelkonzerns Adidas designen ihre Laufschuhe am heimischen Computer. Die Passauer Firma Mymuesli begeisterte vor Jahren mit dem Cerealien-Mix per Mausklick die Gründerszene im Web. Bislang nutzen fast ausschließlich große Unternehmen und innovative Startups solche individuellen Vertriebschancen. Experten sind sich sicher: Betriebe, die sich dem Trend verweigern, werden irgendwann vom Markt verschwinden.
Der Durchschnittskunde von Lattoflex ist 53 Jahre alt, hat keine finanziellen Sorgen und leidet morgens unter Rückenschmerzen. Entschließt er sich dazu, doch endlich einmal in einen neuen Lattenrost zu investieren, muss er sich im Geschäft klar äußern: Sogar schriftlich wird er zu seinen Schlafgewohnheiten, seiner bevorzugten Liegeposition, seinen Beschwerden, aber auch zu seiner Größe und zu seinem Gewicht befragt. Auf Basis dieser Informationen komponiert der Verkäufer dann aus 12.000 Varianten seinen individuellen Lattenrost, der aus über hundert flexiblen, miteinander verbundenen Kunststoffscheiben besteht.
Mit diesem Angebot ist Lattoflex eines der wenigen mittelständischen Unternehmen in Deutschland, die in der sogenannten Losgröße 1 produzieren: Statt möglichst viele Lattenroste unabhängig von der Auftragslage und den Wünschen der Kunden herzustellen, beginnt das Familienunternehmen aus Bremervörde mit der Produktion erst dann, wenn der konkrete Auftrag eingegangen ist.
Bei hochpreisigen Gütern wie Autos oder Küchen hat sich das Prinzip der individualisierten Massenanfertigung längst etabliert: Audi, Mercedes und Co. etwa bieten seit Jahrzehnten unterschiedlichste Felgen, Lenkräder oder Armaturen. Doch seit ein paar Jahren schwappt die Individualisierungs-Welle auch auf Alltagsprodukte über. Egal ob Tee oder Müsli, Buch oder Bratwurst, Hundefutter oder Edelschokolade – Individualisierung gilt inzwischen auch in anderen Branchen als der Umsatzbringer.
» Wer sich nicht an kleinere Losgrößen anpasst, wird vom Markt verschwinden. « Sebastian Groggert, Mittelstand 4.0
Große Unternehmen und junge Startups setzen gleichermaßen auf den konkreten Kundenwunsch und erzeugen so einen steigenden Innovationsdruck auf den deutschen Mittelstand. „Wenn sich kleine und mittelständische Unternehmen nicht an kleinere Losgrößen anpassen, werden sie vom Markt verschwinden“, prognostiziert Sebastian Groggert vom Mittelstand 4.0 Kompetenzzentrum, einer Initiative des Bundeswirtschaftsministeriums. Trotzdem hat bislang laut einer Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) erst ein Fünftel der mittelständischen Unternehmen mit der digitalen Vernetzung von Produkten und Dienstleistungen begonnen.
Der Hauptgrund für die Zurückhaltung dürfte wohl die Angst vor einer teuren Umstellung des Unternehmens sein. Eine solche hat auch Lattoflex hinter sich: „Die Herstellung von so vielen Produktvarianten war mit der alten Massenfertigung nicht mehr zu schaffen“, sagt Geschäftsführer Boris Thomas rückblickend. Die Konsequenz: Innerhalb von zwei Jahren stellte er den Betrieb komplett um und investierte in neue Maschinen sowie in die Schulung der Mitarbeiter. Gesamtkosten: rund eine Million Euro.
Schrittweise Umstellung
Doch nicht immer und überall muss die Umstellung so groß und teuer ausfallen. So geben die vom ZEW befragten Unternehmen an, dass ihr Risiko der Umstellung überschaubar gewesen sei. Die Kosten konnten dank eines gut laufenden Geschäfts finanziert werden und einzelne Innovationen im Produktionsprozess seien über mehrere Jahre hinweg Schritt für Schritt angestoßen worden. Eine komplette Umstellung der Produktion innerhalb kurzer Zeit gab es tatsächlich nur bei wenigen der Interviewten. „Oft lohnt es sich, zunächst ein bisschen zu experimentieren“, ermutigt Frank Piller, Professor für Technologie und Innovationsmanagement an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen. Seine Empfehlung: Anstatt in einem langwierigen Prozess eine einzige Idee auszuwählen und dann 500.000 Euro zu investieren, um diese in Perfektion umzusetzen, sollten Unternehmer lieber zehn Ideen mit zunächst 5.000 Euro fördern – um am Ende vielleicht sogar von mehreren Neuerungen zu profitieren. Und 4.0-Experte Groggert hat beobachtet, dass nicht immer gleich alle alten Maschinen entsorgt werden müssen. Stattdessen könnten die meisten Anlagen relativ günstig umgerüstet werden.
Gefühle als Strategiegrundlage
Allerdings ist das Motto „Losgröße 1“ nicht für jedes Unternehmen das Richtige. „Eine Individualisierung lohnt sich am meisten bei Produkten, an die sich die Kunden emotional gebunden fühlen“, so Groggert. Aus diesem Grund kaufen viele Menschen auch immer dieselbe Müsli- oder Schokoladensorte. Dagegen ist den meisten die Herkunft ihrer Müllbeutel völlig egal. Wegen dieser starken Bindung müsse die Individualisierung auch nicht unbedingt immer einen Qualitätsvorteil bieten, sagt Piller, der die individuellen Massenprodukte von rund 1.200 Unternehmen analysiert hat. „Wir haben rausgefunden, dass Kunden oftmals nicht das Produkt, sondern vielmehr den Individualisierungsvorgang kaufen.“ So geht es beispielsweise den Kunden eines US-amerikanischen Teddybären-Herstellers primär um den Vorgang der Individualisierung des Plüschtiers – am fertigen Objekt sind sie aber gar nicht mehr so interessiert. Die Entscheidung für eine individuelle Produktion funktioniert deshalb auch als Marketingstrategie gut. Der Professor warnt jedoch davor, nur halbherzig zu agieren: „Angebote, bei denen sich nur ein paar Farben ändern lassen, bieten keinen Nutzwert und verschwinden auch wieder vom Markt“, so Piller.
Damit die Firma mit ihrer Individualisierung auf die Erfolgsspur kommt, muss sie aber noch eine weitere Voraussetzung erfüllen: Sie muss in der Lage sein, viele Daten zu erheben, zu analysieren und auszuwerten. Tatsache ist: Ohne die Erhebung von individuellen Kundendaten kann der Unternehmer lange rätseln, welche Wünsche der Einzelne wohl haben könnte. Außerdem muss das Produkt jederzeit durch einen Barcode identifizierbar sein – nur so ist sichergestellt, dass jeder Mitarbeiter bei jedem Herstellungsschritt genau weiß, wie die Ware am Ende auszusehen hat. Bei Lattoflex jedenfalls ist „Losgröße 1“ längst zum erfolgreichen Geschäftsmodell geworden. Das Unternehmen verkauft seine Lattenroste inzwischen europaweit und der Umsatz stieg seit der Umstellung kontinuierlich – im vergangenen Jahr auf 50 Millionen Euro. Rückenschmerzen sind schließlich weit verbreitet.
Anlaufstellen für die Umstellung
Hier können sich kleine und mittlere Unternehmen zum Thema Industrie 4.0 beraten lassen:
Die AIF Arbeitsgemeinschaft industrieller Forschungsvereinigungen organisiert Forschungsprojekte, Weiterbildungsveranstaltungen zu neuen Technologien, individuelle Beratung oder branchenbezogene Recherchen rund um Forschung und Entwicklung. aif.de
Mit dem Forschungsprogramm Innovationen für die Produktion, Dienstleistung und Arbeit von morgen will das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Forschungsvorhaben von Unternehmen und Einrichtungen im Bereich Produktion fördern. bmbf.de
Das IKT 2020 ist ebenfalls ein Forschungsprogramm des BMBF. Es richtet sich an Unternehmen im Bereich Informations- und Kommunikationstechnologie.
ikt2020.de
Der Cluster Microtec Südwest ist ein Zusammenschluss von Unternehmen, wissenschaftlichen Einrichtungen und der Plattform für Innovationen in vier Bereichen: Smart Production, Smart Mobility, Smart Health, Smart Energy.
microtec-suedwest.de
Die Initiative Mittelstand 4.0 – Digitale Produktions- und Arbeitsprozesse des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie unterstützt Mittelstand und Handwerk bei der Digitalisierung, Vernetzung und Einführung von Industrie-4.0-Anwendungen. Die derzeit elf deutschen Mittelstand-4.0Kompetenzzentren informieren Unternehmen und bieten ihnen praxisnah konkrete Anschauungs- und Erprobungsmöglichkeiten. mittelstand-digital.de
Das EFRE-NRW-Programm 2014–2020 orientiert sich an vier Schwerpunktthemen: Technologische Innovation und Entwicklung, Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit von kleinen und mittelgroßen Unternehmen, Klimaschutz und Stadtentwicklung. efre.nrw.de
Der Spitzencluster-Wettbewerb „It’s OWL“ vergibt Zuschüsse für Forschungsvorhaben von Maschinenbauunternehmen, Automobilzulieferern und Elektroindustrie.
its-owl.de
Mit dem ZIM – Zentrales Innovationsprogramm Mittelstand fördert das Bundeswirtschaftsministerium einzelbetriebliche FuE- sowie Kooperationsprojekte zwischen Unternehmen oder zwischen Unternehmen und Forschungseinrichtungen. zim-bmwi.de