
© Thekla Ehling
Man nehme: eine Milliarde Euro, ein paar Wissenschaftler und IT-Spezialisten und Rafael Laguna. Der Kölner Software-Unternehmer formt die nagelneue Agentur für Sprunginnovationen der Bundesregierung. Damit hat der Selfmade-Mann den wohl kniffligsten Job, den Deutschland zu vergeben hat.
Aufgeräumte Ruhe herrscht im 16. Stock. Der Schreibtisch: leer, nur eine angebrochene Tüte Nüsse als Nervennahrung liegt bereit. Draußen fliegen graue Wolken tief über Köln – ein atemberaubendes Panorama. „Jeden Tag zeigt sich der Dom in neuer Stimmung“, schwärmt Rafael Laguna de la Vera.
Die morgendliche Fahrt im gläsernen Aufzug hoch in seine Kommandozentrale über dem Friesenplatz möchte der Software-Unternehmer, Gründer und CEO der Open-Xchange AG, nicht missen.
Nur: Erstaunlich wenig los hier. Wo seine Leute seien? „Ach, 50 Prozent sind sowieso im Homeoffice, der Rest ist unterwegs“, sagt er. „Wir investieren lieber in digitale Infrastruktur als in Stühle und Schreibtische.“
Wie ein Designer wirkt der 55-Jährige, ganz in Schwarz gekleidet mit schwarz gerahmter Brille. Als Internet-Kürzel verwendet er ein verspieltes @rafbuff. Die Gelassenheit ist nicht aufgesetzt, sondern authentisch.
Zugewandt, klug und verschmitzt kommt der Unternehmer rüber. Laguna, gebürtiger Leipziger und gelernter Sauerländer, ist ein Typ. Vielleicht ist er sogar der Mann, auf den Deutschland gewartet hat. Als Geburtshelfer einer neuen Genialität.
@rafbuff soll es richten – als Chef der neuen Agentur für Sprunginnovationen, mit der die Bundesregierung die praxisnahe Forschung auf ein aufsehenerregendes Niveau heben will.
Die Turbo-Institution soll auf unkonventionelle Weise revolutionäre Neuerungen zur Massenmarktreife befördern – im Dienst der deutschen Volkswirtschaft. In dieser Mission dürfen die staatlichen Innovationsmanager binnen zehn Jahren eine satte Milliarde Euro Anschubhilfe ausgeben. Offenbar keine allzu schwere Bürde für Laguna: „Ich darf sogar scheitern“, sagt er gut gelaunt.
Vom Computerkid zum Software-Unternehmer
Doch der Reihe nach: Bis zum Sommer 2019 verlief Lagunas Leben zwar ungewöhnlich, aber in jeder Kapriole nachvollziehbar. „Ich bin nicht zielstrebig, sondern interessengetrieben“, sagt er.
Mit Mitte 20 hatte er bereits diverse Stationen hinter sich: Computerkid, Zivi, Kinogründer, Schnupperstudent, Programmierer, Teilhaber einer Softwarefirma. In dem Stil ging es weiter, bis heute.
Sein Unternehmen Open-Xchange möchte mit Open-Source-Software die Microsoft-Vorherrschaft untergraben, beschäftigt 270 Mitarbeiter in sieben Ländern, setzt 45 Millionen Euro um und bedient weltweit 2,7 Milliarden Nutzer.
Die Agentur
Radikale, disruptive Innovationen „Made in Germany“ zu schaffen – das ist der Auftrag der staatlichen „Agentur für Sprunginnovationen“ (SprinD).
Als Mittel der Industriepolitik stellt die Bundesregierung über einen Zeitraum von zehn Jahren rund eine Milliarde Euro zur Verfügung. Ziel: Aus den vielen Forschungsansätzen jene herausfiltern und fördern, die das Zeug haben, alte Technologien oder Geschäftsmodelle durch komplett neue zu ersetzen.
Identifizierte Themen werden über maximal fünf Jahre unternehmerisch in Projekt-GmbHs umgesetzt. Leipzig setzte sich als Agenturstandort gegenüber Karlsruhe und Potsdam durch. Gründungsdirektor Rafael Laguna de la Vera baut derzeit das 35- bis 50-köpfige Team auf, das mit viel Tempo und für eine staatliche Stelle ungewöhnlich hohen Freiheitsgraden agieren soll.
Der Ideentrichter füllt sich über die Recherche der fünf Innovationsmanager, Einreichungen aus Forschung und Wirtschaft sowie projektorientierte Wettbewerbe. Die ersten „Challenges“ laufen in drei Themengebieten an: Organe aus dem Labor, Energiespeicher für zu Hause und energieeffiziente KI-Systeme (Künstliche Intelligenz).
Die Aufgabe ist gewaltig
Und nun: Als Leiter der Agentur für Sprunginnovationen ist sein Auftrag gewaltig. Laguna muss ab sofort nicht nur „das Gras wachsen hören“, wie Forschungsministerin Anja Karliczek es nennt, sondern über gezielte Förderung und Vernetzung der richtigen Personen dafür sorgen, dass die bundeseigene Agentur Neuerungen hervorbringt, die die Welt verändern – am besten in der Größenordnung wie das Smartphone, Penicillin oder das Internet.
Die absolut große Sache, von der heute noch niemand ahnt. „Wir müssen Sprunginnovationen wie das Auto finden, die uns den Wohlstand in Deutschland für die nächsten 100 Jahre sichern“, sagt Laguna.
Nach vielen Stationen scheint Laguna am Ziel: „Es ist mein Traumjob“, sagt er. „Ich darf mit interessanten Menschen arbeiten, habe die finanziellen Mittel und den Rückenwind aus der Politik.
In der Wirtschaft müsste man für all das erst mal kämpfen, kämpfen, kämpfen.“ Laguna übt das Amt, so die Absprache, zunächst zu 50 Prozent aus. Die andere Hälfte der Zeit bleibt er Unternehmer. „Ich musste meinen Investoren bei Open-Xchange klarmachen, dass ich nebenbei für drei Jahre die Agentur aufbaue“, sagt er. „Die waren nicht unbedingt begeistert.“
Freie Wochenenden habe er nicht mehr, „Letztlich ist auch eine Bundesagentur ein Start-up“, sagt Laguna. Nach der freudigen Proklamation vor laufenden Kameras stellte sich heraus, dass noch einiges zu klären und organisieren war, bis die SprinD GmbH an den Start gehen konnte.
Das erste halbe Jahr trommelte er Freunde und Familie zusammen, „das SEK Laguna“, um auf eigene Faust und Rechnung die ersten Weichen zu stellen. „Ich konnte 2019 noch keine öffentlichen Mittel ausgeben“, sagt Laguna. Erst vier Tage vor Weihnachten unterschrieb er in Bonn seinen Dienstvertrag. Die Mühlen mahlen langsam – noch.
Aufbruchstimmung in Leipzig
Als SprinD-Standort votierte Laguna für Leipzig. Er schätzt die Aufbruchstimmung dort: „Es fühlt sich an wie Berlin vor zehn Jahren, da passiert noch was.“ Die Stadtverwaltung stellte gleich mitten im Zentrum ein Büro zur Verfügung.
„Das sagt ja alles, wir sind hochwillkommen.“ Ein finaler Standort werde noch gesucht, auch der Personalaufbau laufe, sagt Laguna. 35 bis 50 Mitarbeiter solle die Agentur haben.
Besonderes Gewicht kommt den drei bis fünf Innovationsmanagern zu, die viel Handlungsspielraum brauchen, um Projekte zu identifizieren und massiv zu pushen.
Laguna tickt wie ein Unternehmer, wie jemand, der mit Tempo nach vorne geht. „Ich will größtmögliche Freiheit herstellen“, sagt er.
Allerdings ist die Agentur kein rechtsfreier Raum, am europäischen Vergaberecht kommt auch Laguna nicht vorbei. Wie groß die Freiheitsgrade am Ende sein können, wird eine spannende Frage bei diesem Ansatz der Industriepolitik sein.
Welche Sorte Perlentaucher er braucht, hat Laguna klar vor Augen. „Es müssen nicht nur Experten auf ihrem Gebiet sein, sondern Getriebene, regelrechte Bus Ticket Collectors.“
Gemeint ist eine obsessive Sammlerleidenschaft in einem Spezialgebiet. Er selbst sei so veranlagt, wenn es um Analog-Synthesizer geht, erzählt er. Zu Hause nahe Olpe hat sich Laguna ein Tonstudio und ein „Lötlabor“ eingerichtet.
Beruflich ist er nun praktisch auch ein Sammler – von High Potentials. Er wird spleenige Querdenker zusammenbringen, denen er genug Kenntnis und Verrücktheit zutraut, um in neuem Umfeld auf völlig neue Dinge zu kommen.
Ohne sich um Finanzierung und Administratives kümmern zu müssen, können sie ungestört werkeln – gemeinsam aber vielleicht einen Innovations-Urknall auslösen. Darauf spekuliert die Regierung mit ihrer Milliarden-Agentur. „Wir pumpen Geld in Sachen, die für sich genommen womöglich nie profitabel wären.“
Alles, nur nicht hinterherlaufen
Laguna, der große Anschieber, verspricht sich beispielsweise viel von einem möglichen Revival der Analogtechnik, die vor 50 Jahren auf das Abstellgleis geriet. „Analogcomputer sind viel robuster, nicht hackbar – und funktionieren im Prinzip wie das menschliche Gehirn.“
Auch beim Maschinellen Lernen versuche man ja, Prozesse in unserem Gehirn zu simulieren. Um aber 88 Milliarden simple Neuronenmodelle zu simulieren, bräuchte ein Digitalcomputer „ein eigenes Kernkraftwerk“. Analogcomputer dagegen funktionierten mit so viel Watt wie eine Glühbirne.
Die Miniaturisierung sei inzwischen auch analog machbar. „Es geht uns also darum, einen kleinen Hybrid-Chip zu konstruieren für Anwendungen des Maschinellen Lernens.“
Ein analog-digitaler Chip könnte mit seinem geringen Strombedarf etwa in autonomen Fahrzeugen oder Handys zum Einsatz kommen. Er hätte das Zeug zu einer Killerapplikation: ein Gehirn für Maschinen – versehen mit deutschem Datenschutzverständnis.
Spielwiese für Freaks
Und wer soll das stemmen? Laguna nennt Namen von Professoren, die sonst eher als Freaks porträtiert werden. Etwa Bernd Ulmann, Enthusiast für alte, längst vergessene Großrechner, die nicht nur null und eins kennen.
Daheim im Taunus beherbergt der Informatiker die größte Analogrechner-Sammlung der Welt. Teils hat er für die tonnenschweren Maschinen in seinem Garten Fundamente gießen lassen und Häuser darum herumgebaut.
Heute könnte man Milliarden Transistoren auf einem Chip platzieren. „Ulmann kann ich jetzt sagen: Bau deinen Chip“, sagt Laguna.
Alles, nur nicht hinterherhecheln – das ist Lagunas Credo. Wer also glaubt, in Sachen Künstliche Intelligenz eine interkontinentale Aufholjagd starten zu müssen, bekommt von ihm ein Kopfschütteln.
„Wer disruptiv sein will, muss anders denken als Amerikaner oder Chinesen.“ Nicht nur, weil man sonst weiter Verfolger bliebe. Laguna ist noch wichtiger, dass man bei der Digitalisierung nach europäischem Muster das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen hochhalten müsse.
„Unser Denken in Technologiefolgen wird noch zum Exportschlager“, ist er sich sicher. DSGVO? Ein echtes Pfund. „Ich merke es bei unseren 40 amerikanischen Mitarbeitern: Unsere deutschen Prinzipien werden dort sehr geschätzt.“
„Wir müssen Sprunginnovationen wie das Auto finden, die uns den Wohlstand in Deutschland für die nächsten 100 Jahre sichern.“
Rafael Laguna de la Vera
Gegenentwurf zu USA und China
Laguna will auf deutschen Stärken aufbauen, etwa dem ernsthaften Umgang mit dem Klimawandel. „Wir haben eine fantastische Wissenschaft, die aber den Weg in die Praxis oft nicht findet.“ Er will mehr Menschen verzahnen, wirtschaftlich, wissenschaftlich und politisch. „Es fehlen nur Bindeglieder, nicht aber Substanz.“
Dazu zählt für Laguna auch der Aufbau einer europäischen Internet-Infrastruktur, die auf Open-Source-Grundsätzen beruht. Nur so könne man wirklich datenschutzkonform mit Massendaten umgehen.
„Die Cloud-Server haben wir nicht in unseren Händen, sie stehen großteils in Amerika oder China, das müssen wir ändern“, sagt Laguna angriffslustig. Geht es um die Datenmonopolisten der Internetwelt, kennt Laguna kein Pardon.
„Facebook schafft einen Überwachungsstaat, wie wir ihn in der DDR in der analogen Version abgeschafft haben – nur eben viel schlimmer. Wir müssen einen europäischen Weg der Digitalisierung finden, der auf unseren humanistischen Grundprinzipien beruht.“
Der Mensch
Geboren in Leipzig als Sohn eines Spaniers und einer Deutsch-Holländerin, wuchs Rafael Laguna die ersten zehn Jahre in der sächsischen Kleinstadt Pegau auf.
Nach der Übersiedlung 1974 wurde er in Olpe heimisch, 1976 lötete er seinen ersten Computer zusammen und lernte Maschinensprache. Mit 16 gründete er Elephant Software und importierte aus den USA Programme für Mikrocomputer.
Nach dem Abitur betrieb er mit 20 neben dem Zivildienst einen Filmklub, bis eine Heizölrechnung über 30.000 Mark kam. Ein aus Geldnot nachts geschriebenes Programm für Kassensysteme verhalf ihm zur Teilhaberschaft bei der Dicomputer GmbH sowie 1988 zum Einstieg bei der Micado GmbH in Bonn, die später in die USA verkauft wurde. „Ich bekam als Mitgesellschafter einen Riesenscheck.“
Nach zahlreichen Engagements in VC- und Software-Firmen gründete Laguna 2005 mit Frank Hoberg die Open-Xchange AG, wo er heute als CEO „deutlich siebenstellig“ investiert ist. Für drei Jahre unterschrieb der 55-Jährige nun als Gründungsdirektor der Agentur für Sprunginnovationen.