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Die Deutschen sind extrem beharrlich. Sie haben Stehvermögen, sind widerstands- und anpassungsfähig. Doch vor dem Sprung ins kalte Wasser schrecken sie zurück. Was also tun in Zeiten des Wandels?
Volker Maiborn steht vor einer Wand. Vor ihm 500 Mitarbeiter, die eisern schweigen. Auf der Fotowand ist jeder Mitarbeiter der Münchner IT-Beratung Maiborn-Wolff mit seinem Bild und Namen verewigt. Die Neuen sind mit einem farbigen Kringel markiert.
Alle Gesichter kann sich hier schon lange niemand mehr merken. Darum wird jeden Monat ein neues, aktuelles Plakat ausgedruckt und aufgehängt. Nur so behält man in diesem Bienenstock den Überblick darüber, wer ganz neu dabei und wer eigentlich wer ist. Ein ständiges Kommen und Gehen, permanente Veränderung.
In Deutschland verlieren immer mehr Menschen die Orientierung, so hat es den Anschein. Da gibt es Roboter, die uns die Jobs wegnehmen. Der Klimawandel zwingt uns zum Handeln. Disruptive Startups greifen die etablierten Konzerne an. Die globale Migration macht Büros zu Laboratorien der interkulturellen Zusammenarbeit.
Wir müssen uns verändern, wenn wir in der Arbeitswelt von morgen bestehen wollen — so sagen es alle Prophezeiungen unisono. Allein die Digitalisierung bringe „beträchtliche Veränderungen in der betrieblichen Personalpolitik mit sich“, schreibt zum Beispiel das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in einer Analyse. „Eine zentrale Rolle spielen dabei Kenntnisse, die durch Weiterbildung erworben werden.“
Change-Management in Schritte
Bei Maiborn-Wolff verfügt jeder Mitarbeiter über ein jährliches Weiterbildungsbudget von einem Brutto-Monatsgehalt. Bislang hat man das auf herkömmliche Art und Weise ausgegeben. Die IT-Berater buchten ein Seminar, fuhren ins Hotel, lauschten dem Vortrag des Experten, stellten die eine oder andere Zwischenfrage, fuhren anschließend wieder ins Büro – und vergaßen das meiste wieder.
Darum baut das Unternehmen sein Weiterbildungskonzept jetzt radikal um. Die Lerneinheiten sollen kleinteiliger werden, digitaler und individueller – ganz so wie in der Strategie der kleinen Schritte, die Stanford-Wissenschaftler B.J. Fogg seit ein paar Jahren predigt (siehe unten).
Man will sie wie kleine, bunte Fäden in den Arbeitsalltag einweben. Hier mal ein Lernvideo am Bildschirm, dort ein fachlicher Austausch mit Kollegen, dann wieder eine kurze Runde mit einem Gast.
So machen Sie Veränderungen möglich
Verhaltensforscher B.J. Fogg ist überzeugt: Die Strategie der kleinen Schritte kann jedermann helfen, neue und bessere Routinen zu entwickeln. Fogg empfiehlt folgendes Vorgehen:
Ziel setzen. Ein mögliches Ziel könnte sein, sich im Büro gesünder zu ernähren.
Kleine Schritte erwägen. Angewohnheiten helfen, das Ziel zu erreichen – etwa jeden Tag einen Apfel essen.
An Routine ankoppeln. Als vage Vorstellung, gerät der Vorsatz, jeden Tag einen Apfel zu essen, schnell wieder in Vergessenheit. Wird er aber an eine Routine gekoppelt, geht er ins tägliche Handeln über. Beispiel: Wer mittags an seinem Schreibtisch isst, legt sich morgens einen Apfel hin – und greift nach einiger Zeit ganz automatisch zu dem gesunden Obst.
„Wir pieksen die Mitarbeiter immer wieder an, statt mit ihnen zweimal im Jahr ins Hotel zum Seminar zu fahren. Das erhält die Veränderungsbereitschaft“, glaubt Volker Maiborn. „Lernen wird dadurch ganz normal.“ Vor anderthalb Jahren hatte man den Prozess in Gang gesetzt. Bis das Räderwerk neu eingestellt ist, werden vermutlich noch mal ein bis zwei Jahre ins Land gehen.
„Wir verändern uns eher zu schnell und zu viel als zu langsam und zu wenig“, sagt Volker Maiborn. Sein Haus beschäftigt heute 500 Mitarbeiter, 2011 waren es 50. Der Altersschnitt liegt bei rund 34 Jahren. Es gibt 13 Bereiche, die nach Leistungsangeboten geordnet sind.
Schon 2017 hatte das Unternehmen die feste Zuordnung der Bereiche an einen der fünf Geschäftsführer abgeschafft. Zu unflexibel.
Zuletzt kam der Bereich künstliche Intelligenz hinzu, für den man eigens einen Postdoktoranden der TU München abgeworben hatte. Anfang 2019 eröffnete Maiborn-Wolff ein Büro in Tunis, im Juni kam der Standort in der Hamburger Hafencity dazu. So manchem Mitarbeiter ist das zu viel, zu schnell, zu anonym.
Veränderungslust wecken
Erzwungene Veränderungen sind belastender als freiwillige. Darauf weisen Psychologen gerne hin. Das ist gleichzeitig eine Chance. Wenn Menschen von sich aus etwas Neues lernen oder ein Projekt starten, dann fällt ihnen Veränderung leichter.
Das geht im besten Fall so weit, dass sie sich ihren Traumjob ganz einfach selbst schnitzen. Arbeitspsychologen haben sich dafür einen besonderen Begriff einfallen lassen. „Erwerbstätige, die mehr Job Crafting betreiben, fühlen sich bei ihrer Arbeit weniger gestresst“, sagt Hannes Zacher, Organisationspsychologe an der Universität Leipzig.
Job Crafting sei eine Möglichkeit, proaktiv mit Veränderungen umzugehen. Das fange schon damit an, einfach mal einen Kollegen um Rat zu fragen. Oder den Vorgesetzten um eine Weiterbildung zu bitten, wenn man merkt, dass die eigenen Fähigkeiten nicht mehr auf der Höhe der Zeit sind.
Den eigenen Job selbst gestalten, verbessern, mit Inhalt und Leben füllen. Dafür müssen aber die Rahmenbedingungen im Unternehmen stimmen. Ein gewisses Maß an Entscheidungsfreiheit ist erforderlich, auch sympathische Kollegen, die helfen.
Auf Entscheidungsfreiheit setzt auch Maiborn-Wolff. Jeder Mitarbeiter soll 80 Prozent seiner Zeit in Kundenprojekte investieren. Das ist das Brot-und Butter-Geschäft. Die restlichen 20 Prozent kann er sich eigenen Projekten widmen.
Auch kleine Erfolge feiern
Erfolge lassen sich schon im Kleinen bestaunen. So bastelten Mitarbeiter aus dem Bereich Internet of Things einen Sensor, der von außen anzeigt, ob die Firmendusche gerade besetzt ist. Für die Fahrradfahrer, die morgens verschwitzt im Büro ankommen, eine nette Sache.
Die IT-Beratung hat sieben Hierarchiestufen eingeführt. Im Jahresgespräch wird herausgearbeitet, ob der Mitarbeiter bereit ist für den nächsten Schritt. Manchmal hat er voll überzeugt und der Arbeitgeber nichts zu meckern. Aber selbst das birgt Gefahren.
Lob hält schon bestehende Stärken und Angewohnheiten aufrecht, mehr nicht. „Ich rate sehr davon ab, nur positives Feedback zu geben“, sagt Hannes Zacher. „Positives Feedback ist schädlich, wenn man eine Veränderung herbeiführen möchte.“
Wer das Verhalten von Mitarbeitern ändern möchte, muss sie kritisieren. Und da wird es richtig knifflig.
Jemanden als unzuverlässig brandmarken oder ihm andere negative Eigenschaften anheften, das sei ein klares No-Go, so Zacher. Denn Eigenschaften sind stabil, sie suggerieren Veränderungslosigkeit. Und sie bleiben kleben.
Wie negatives Feedback motiviert
Wem ständig aufs Butterbrot geschmiert wird, er sei nicht kreativ genug, der glaubt irgendwann selbst daran — und stellt seine Bemühungen wegen vermeintlicher Aussichtslosigkeit ein.
„Es ist immer bedenklich, wenn Menschen Feedback auf sich selbst beziehen, weil es ihr Selbstwertgefühl beschädigen kann“, sagt der Organisationspsychologe. Sein Rat an Unternehmen: Niemals die Eigenschaften eines Mitarbeiters benennen, sondern stets auf dessen Verhalten abzielen und möglichst konkrete Änderungsvorschläge anbieten.
„Wenn sich negatives Feedback ganz klar auf Verhalten oder Aufgaben bezieht, kann es sehr effektiv sein und motivierend wirken.“ Für Personaler wahrlich ein Balanceakt.
„Wichtig ist Transparenz“, sagt Volker Maiborn. Mitarbeiter würden nur dann gute Entscheidungen treffen – und eine Notwendigkeit zur Veränderung erkennen –, wenn sie um die Hintergründe wissen.
Darum wird aus den wichtigsten Indikatoren im Haus kein Geheimnis gemacht: Umsatzzahlen, Auslastung, erzielte Tagessätze. Arbeitet ein Bereich nicht wirtschaftlich, werde seinen Mitgliedern schnell bewusst, dass sie sich etwas einfallen lassen müssen.
„Es gibt natürlich auch Mitarbeiter, die wir anstupsen müssen“, sagt Maiborn „Die kuscheln sich ein in dem, was sie da tun.“
Woran Change-Projekte scheitern
Nur 23 Prozent aller Veränderungsprojeke in deutschen Unternehmen waren im vergangenen Jahr erfolgreich. Mehr als drei Viertel aller Projekte scheiterte oder verlief im Sande. Die Gründe:
17% Management
12% alte Strukturen
6% Ressourcenmangel
4% Kompetenzmangel
9% SonstigesQuelle: Mutaree, Change-Fitness-Studie 2018
Die Richtung vorgeben
Nur an Autonomie und Selbstbestimmung glaubt auch Dieter Lederer nicht. Er nennt sich selbst „Der Veränderer“. Lederer arbeitet seit 20 Jahren als Unternehmensberater, berät vor allem Großkonzerne und mittelständische Unternehmen.
„Dass sich jeder Mitarbeiter immer selbst einbringen möchte, das sehe ich so nicht in der Welt da draußen“, sagt der gelernte Ingenieur. „Führungskräfte müssen die Richtung vorgeben. Das vermisse ich bei vielen. Die meisten Unternehmen sind zu sehr mit Zahlen, Daten, Fakten beschäftigt.“
Psychologe Zacher bestätigt, dass eine übergeordnete Vision wichtig sei: „Wenn viele Veränderungen völlig unabhängig aufeinander einprasseln, kann das bei den Mitarbeitern Zynismus auslösen. Nach dem Motto: Das wird doch eh nichts.“
An Change-Projekten mangelt es in den Betrieben nicht. Die einen wollen unbedingt agil arbeiten, die anderen Heimarbeit einführen, wieder andere die Zusammenarbeit zwischen den Abteilungen verbessern.
Lederer glaubt, dass drei Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit der Wandel gelingt. Zunächst müssten alle Führungskräfte das jeweilige Konzept begreifen, verinnerlichen und auf die gleiche Art und Weise auslegen. „Daran scheitern leider schon fast alle Unternehmen“, weiß er. „Das ist nämlich Arbeit.“
Als Zweites müssten die Ziele klar benannt und ihre Auswirkungen auf den einzelnen Mitarbeiter heruntergebrochen werden. „Mitarbeiter sind in ihrer täglichen Erfahrungswelt unterwegs. Wenn ihnen unklar ist, wie Veränderungen daran andocken, können sie nichts damit anfangen.“
Und zum Dritten müsse man an die Emotionen der Belegschaft appellieren. „Fakten bringen zum Denken, Emotionen bringen zum Handeln“, sagt Lederer plakativ. „Emotionen sind der Schlüssel fürs Gelingen.“
Begeisterung multiplizieren
Dabei müsse der Arbeitgeber gar nicht jeden einzelnen Mitarbeiter von seinem Plan überzeugen. Wenn man die wichtigsten Leute gewinne, würden sie ihre Begeisterung in die Belegschaft tragen – der bekannte Multiplikatoreffekt.
„Das Ziel von guter Führung muss es sein, Veränderungen besser zu erklären. Es muss auch einen ganz klaren Bezug zu den individuellen Interessen der Mitarbeiter geben. Sie müssen motiviert sein, sich auf diese Veränderungen einzulassen“, erklärt Hannes Zacher. Gute Führung ist also wichtig, aber ohne Eigenantrieb wirkungslos.
Die Welt dreht sich schneller und schneller, und sie beschleunigt weiter. Und doch kommt der Wandel nicht immer als Tornado daher, manchmal auch als laues Lüftchen. Vor 20 Jahren entwickelte Maiborn-Wolff ein Einkaufsmanagementsystem, über das ein Reiseveranstalter Hotelbetten einkauft. Es ist heute noch immer in Betrieb.
Regelmäßig wartet die IT-Beratung es für ihren Kunden, erweitert es um dieses oder jenes Feature. Das ist eher spröde Kleinarbeit und keine Aufgabe für Rastlose, die immer gleich zum nächsten Ufer schwimmen wollen. Und seit Ewigkeiten kümmert sich der immergleiche Kollege darum, routiniert und gut. „Ich brauche auch Leute, die die permanente Veränderung nicht wollen“, sagt Volker Maiborn. Sie kommt eh noch früh genug.