Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim entwickelte ein spezielles Insolvenzverfahren für zahlungsunfähige Staaten. ZEW-Präsident Prof. Clemens Fuest erläutert die Details.
Neu geschaffene Krisenreaktionsmechanismen sollen verhindern, dass im Falle des Bankrotts eines Staates der Eurozone auch die Steuerzahler anderer Eurostaaten für dessen Schulden haften müssen. Ist das gelungen?
Seit dem Jahr 2010 ist zweifellos viel passiert. Die institutionelle Architektur der Eurozone ist durch Stabilitätspakt, Fiskalvertrag, Bankenunion sowie den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) heute deutlich krisenfester. Ein zentrales Defizit hat diese Konstruktion allerdings nach wie vor: Es gibt kein klar definiertes Verfahren zur Bewältigung von Staatsinsolvenzen.
Warum halten Sie die Schaffung eines geordneten Insolvenzverfahrens für Eurostaaten, die ihre Schulden nicht mehr bedienen können, für so wichtig?
Solange es kein solches Verfahren gibt, leidet die Glaubwürdigkeit der an die Krisenhilfen für hoch verschuldete Staaten geknüpften Bedingungen. So sollen beispielsweise Krisenländer nur dann Liquiditätshilfen des Rettungsfonds ESM erhalten, wenn sie sich zu bestimmten Konsolidierungs- und Reformauflagen verpflichten. Was aber, wenn sie ihren Verpflichtungen dann später nicht nachkommen? Dann droht zwar die Möglichkeit, dass ihnen der Geldhahn zugedreht wird – aber richtig glaubwürdig ist diese Drohung nicht, solange es kein geordnetes Insolvenzverfahren für Pleitestaaten gibt.
Aber warum ist ein spezielles Verfahren dazu notwendig?
Leider hat sich in den Jahren nach 2010 gezeigt, dass die Politik bereit ist, fast jedes Tabu zu brechen, um die ungeordnete Pleite eines Eurolands zu vermeiden. Die Angst vor den Folgen für die Finanzmarktstabilität und die Realwirtschaft ist einfach zu groß. Erst mit einem geordneten Insolvenzverfahren kann sichergestellt werden, dass es im Falle der tatsächlichen Zahlungsunfähigkeit auch eines größeren Staats nicht zu einer Kernschmelze des gesamten Finanzsystems der Eurozone kommt. Sobald dies garantiert ist, wird die Drohung real, einem Land die zugesagten Liquiditätshilfen zu entziehen, falls es die Reformen nicht durchführt, zu denen es sich verpflichtet hat. Die Steuerzahler anderer Länder haften dann nicht länger für den Leichtsinn von Regierungen, die sich Reformen und Sparmaßnahmen verweigern. Letztere laufen vielmehr volles Risiko. Und auch private Investoren werden es sich zweimal überlegen, ob sie Staatsanleihen kaufen, die zwar tolle Renditen abwerfen, bei denen sie aber im Ernstfall die wesentliche Last eines Schuldenschnitts zu tragen hätten.
Wie aber lässt sich so etwas durchsetzen?
Die Diskussion über ein Insolvenzverfahren für souveräne Staaten ist nicht neu. In Europa macht allerdings die Schuldenkrise seit 2010 ein intensives Nachdenken über ein solches Verfahren vor dem Hintergrund der spezifischen Bedingungen in der Eurozone besonders dringlich. Dabei ergibt sich ein grundlegendes Dilemma: Einerseits könnte die kurzfristige Einführung eines solchen Insolvenzverfahrens erneut zu Panik an den Märkten für Staatsanleihen führen und Befürchtungen nähren, dass Schuldenschnitte für hoch verschuldete Eurostaaten unmittelbar bevorstehen. Andererseits gilt es, die derzeitige Chance für eine solche Reform zu nutzen und die Investoren mithilfe einer Insolvenzordnung risikobewusst und wachsam hinsichtlich der Bonität staatlicher Schuldner zu machen. Ein vom ZEW entworfenes Modell für einen gangbaren Weg in die Staatsinsolvenz weist einen Ausweg aus diesem Dilemma.
Zur Person
Prof. Clemens Fuest ist seit März 2013 Präsident und wissenschaftlicher Direktor des ZEW und lehrt Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim.
Wie sieht dieses Modell aus?
Das sogenannte VIPS-Konzept (VIPS – Viable Insolvency Procedure for Sovereigns) des ZEW besteht aus zwei Säulen. Eine vertraglich festgeschriebene Insolvenzordnung für den Euroraum, welche die Marktdisziplin auf lange Sicht wieder herstellt, sowie eine glaubhafte Übergangsphase bis zum endgültigen Inkrafttreten dieser Insolvenzordnung. VIPS vermeidet bewusst abrupte Maßnahmen, die die anhaltend fragile Lage in der Eurozone destabilisieren könnten, sondern führt über einen Übergangspfad hin zur Einführung eines europäischen Umschuldungsmechanismus. Die Existenz eines glaubwürdigen Umschuldungsmechanismus würde die immer noch vorhandenen Erwartungen privater Gläubiger, dass die anderen Staaten der Eurozone im Ernstfall hoch verschuldeten Ländern beistehen, beseitigen.
Was ist das Neue und für den Euroraum Spezifische an diesem Vorschlag?
Das Verfahren sieht vor, dass Länder bei Liquiditätsengpässen zunächst nach ihrem freien Ermessen über die Aufnahme von an Bedingungen geknüpften Hilfskrediten des ESM entscheiden. Sollte sich erweisen, dass die Liquiditätshilfen des ESM nach einer Schutzperiode von drei Jahren keine Stabilisierung der Schuldentragfähigkeit eines Landes herbeigeführt haben, muss das Land gemeinsam mit seinen Gläubigern, inklusive des ESM, über die Restrukturierung seiner Schulden verhandeln. Während der Verhandlungen gilt ein striktes Schuldenmoratorium, das unter anderem eine Stundung aller Rückzahlungen bis zum Abschluss der Verhandlungen zur Folge hat.
Was passiert, wenn sich ein Teil der Gläubiger einem tragfähigen Kompromiss verweigert?
Für einen solchen Fall ist die Einführung sogenannter aggregierter Collective Action Clauses vorgesehen. Sie erlauben es einer qualifizierten Gläubigermehrheit über alle Anleihelinien hinweg, eine eventuelle Gläubigerminderheit zur Akzeptanz der Umschuldungsmodalitäten zu zwingen, ohne dass diese Gläubigerminderheit später gerichtlich gegen die Umschuldung vorgehen und auf Rückzahlung der ursprünglichen Schulden drängen kann. Zum Schutz der Gläubiger wiederum wird deren maximale Verlustquote insofern beschränkt, als dass ein potenzieller Schuldenschnitt die Schuldenquote eines Landes nicht unter die Maastricht-Grenze von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) drücken darf.
Wieso sollten sich die Regierungen hoch verschuldeter Staaten auf einen solchen Vorschlag einlassen, der sie unter Druck setzt, mehr für die eigene Bonität zu tun?
Um eine entsprechende Akzeptanz zu schaffen, plädiert das VIPS-Konzept für eine verzögerte Implementierung, die so genannte VIPS-Brücke. Die vorab beschriebenen Regeln des späteren Umschuldungsverfahrens sollen bereits heute festgeschrieben und verabschiedet werden. In Kraft treten sollen sie allerdings erst, wenn vorher fixierte quantifizierbare Kriterien, unter anderem eine bestimmte durchschnittliche Schulden- BIP-Quote, im Euroraum erreicht wurden. Oder – sollten diese nicht rechtzeitig erzielt werden – spätestens zu einem ebenfalls im Vertragstext bereits festgelegten Datum, also beispielsweise im Jahr 2030. So lässt sich vermeiden, dass das Umschuldungsverfahren bei seiner Einführung die Lage auf den Staatsanleihemärkten im Euroraum weiter destabilisiert. Andererseits würden sich die im Moment noch eher reformwilligen Politiker auf ein langfristiges Verfahren und klare Kriterien für seine Einführung festlegen, ohne auf absehbare Zeit direkt betroffen zu sein.