Die europäischen Volkswirtschaften richten sich im internationalen Standortwettbewerb zunehmend auf wissensintensive Wirtschaftszweige mit hoher Wertschöpfung aus. Vor dem Hintergrund kosten- und preisseitiger Konkurrenz durch aufstrebende (Schwellen-)Länder erscheint dies nachvollziehbar. Die Messbarkeit der Wettbewerbsfähigkeit in den wissensbasierten Ökonomien wird dadurch komplexer. Neue Kategorien wirtschaftlicher Wertschöpfung sind oftmals schwieriger vergleichbar als klassische Bewertungsfaktoren wie Kosten, Lieferzeiten oder Produktivitätskennzahlen. Fakt ist: Der Trend, bei Standortentscheidungen reine Kostengründe in den Mittelpunkt zu stellen, ist rückläufig. Wettbewerbsfähige Lohnkostenstrukturen und Steuerregime werden zwar auch weiterhin wichtige Gradmesser sein. Sie müssen allerdings durch Mehrwertfaktoren ergänzt werden, um Arbeitsplätze zu schaffen, Innovationen anzustoßen und Unternehmertum zu fördern. Aus unserer Sicht sind Mobilität, IT-Bildung und Infrastruktur diese Mehrwertfaktoren.
Mobilität, IT-Bildung und Infrastruktur
Werfen wir einen Blick auf die derzeit dringlichsten Herausforderungen der europäischen Volkswirtschaften, wird der Bedarf nach einer intensiven Auseinandersetzung mit den Themen Mobilität, IT-Bildung und Infrastruktur ersichtlich. Im Moment sehen wir in Europa ein starkes Nord-Süd-Gefälle beim Produktivitätswachstum. Dies wirkt sich auf die Kaufkraft aus. Mit nur knapp über 1% ist die kumulierte Produktivität der EU28-Länder deutlich zu niedrig. Zumal sich ein langsames Produktivitätswachstum bei steigenden Arbeitskosten auf die Zukunftsfähigkeit eines Wirtschaftsstandorts auswirkt. Die Thematik erhält zusätzliche Brisanz in Anbetracht der demografischen Veränderungen in den europäischen Märkten. Die Europäische Kommission schätzt, dass der Anteil der Menschen über 65 Jahren bis 2020 um 20% zunehmen wird, bis 2060 sogar um 30%. Die Regionen werden also an Wettbewerbsfähigkeit verlieren, wenn sie es nicht schaffen, dies durch Produktivitätszuwächse zu kompensieren. Gleichzeitig geht der Bedarf immer stärker in Richtung Hochtechnologie- und Innovationsthemen. Der Fachkräftemangel an Ingenieuren und IT-Spezialisten wächst europaweit jährlich um zuletzt 20 bis 25 Prozent.
Europa – wissensbasierte Ökonomie?
Die in vielen europäischen Ländern angestoßenen strukturellen Reformen haben zum Ziel, den Schuldenstand zu verringern und künftiges Wirtschaftswachstum zu ermöglichen. Bei einem Schuldenstand von knapp 95% in der Eurozone ist dies Gebot. Aus unserer Sicht wird erforderlich sein, strukturelle Initiativen auf Mobilitäts-, IT-Bildungs- und Infrastrukturthemen auszuweiten. Eindeutig muss die Mobilität innerhalb Europas eine Aufwertung erfahren. Die derzeitige Zuwanderungsdebatte ist leider nicht selten verzerrt und verstärkt anti-europäische Stimmungen. Wir brauchen mehr Mobilität hochqualifizierter Arbeitskräfte in Europa. Angesichts der demografischen Entwicklungen ist dies unser Schlüssel für Produktivitätssteigerungen sowie für die Flexibilität und Motivation von Arbeitnehmern. Ein “Asset” der europäischen Wirtschaft ist ihre Diversifikation: Einzelne Regionen haben individuelle Vorzüge zum Beispiel durch spezifische Kompetenzcluster, Kostenstrukturen oder Branchenstärken – aber nur durch diese breite Aufstellung ist Europa im globalen Standortvergleich so wettbewerbsfähig. Europa in seiner Gesamtheit als eigenständige, hochkompetitive Wirtschaftsregion bedarf einer Betrachtung, die weniger in Ost und West, Nord und Süd unterscheidet. Europa muss seine Kompetenzen integrieren.
Dies geht Hand in Hand mit dem Thema Infrastruktur: Neben die Verkehrsinfrastruktur tritt vor allem das Thema Informationstechnologie- und Kommunikationsinfrastruktur als wichtiger Wettbewerbsfaktor für die Zukunftsfähigkeit von Wirtschaftsregionen. Für die eingangs erwähnten klassischen Produktivitätsmerkmale – Lieferzeiten, Preise, Produktqualität – kann Infrastruktur eine wichtige Variable sein. Von den neuen Informationstechnologien und dem Internet versprechen wir uns eine starke Position des europäischen Unternehmertums im globalen Wettbewerb sowie weitere Impulse zur Bereitstellung von Bildungsangeboten für breite Bevölkerungsgruppen. Und dies gender-übergreifend. Technologie- und Wissenschaftsthemen werden an Bedeutung gewinnen – Europa muss Wege finden, seine Schüler und Studenten frühzeitig an diese Themen heranzuführen. Dieses Potenzial können wir für den Wirtschaftsraum Europa nur dann heben, wenn wir bei den jungen Leuten, die auf den Arbeitsmarkt drängen, Interesse für die sogenannten „Mint“-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) wecken. Zwei schöne Beispiele, wie dies erfolgreich umgesetzt werden kann, sind die Open-Source-Programmiersprache Ruby und das Informatik-Lernportal Code. Wenn wir in Europa eine wissensbasierte Ökonomie sein wollen, sollten wir uns stärker auf die Faktoren Mobilität, IT-Bildung und Infrastruktur ausrichten.
Milda Darguzaite leitet Invest Lithuania, die offizielle Wirtschaftsförderungs- und Beratungsgesellschaft des Landes Litauen für internationale Investoren.