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Creditreform
Studentin in der Bibliothek

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Ein Hochschulstudium ohne Abitur – das ist längst möglich. Wenn mittelständische Unternehmen ­leistungsstarke Mitarbeiter in ihrem beruflichen Aufstieg fördern und so an sich binden, helfen sie auch sich selbst bei der Bewältigung des Fachkräftemangels.

 

Die Lust am Lernen kam erst nach der Schule: Alexander Baron startete mit einem Jahrespraktikum in der Rhein-Erft-Akademie, schloss eine Ausbildung zum Chemikanten an und machte gleich danach berufsbegleitend den IHK-geprüften Industriemeister Chemie. Doch damit hatte er noch lange nicht das Ende seiner Lernkurve erreicht: An der Fachhochschule des Mittelstands (FHM) sattelte Baron den Bachelor als Wirtschaftsingenieur auf.

Mittwoch- und Freitagabend sowie etliche Stunden am Wochenende fuhr er nach Frechen, während der Corona-Pandemie studierte er digital. „Die Vorlesung zu Hause kann man sich gemütlich gestalten und die Anfahrt am Abend fällt weg“, sagt der Vater eines dreijährigen Sohnes. „Doch es fehlt die Dynamik der Studierenden untereinander.“

Schon seit 2009 dürfen Berufstätige bundesweit ohne Abitur studieren. Heute zählt das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) 8.500 Studienangebote, rund 64.000 Studierende und fast 9.000 Hochschulabsolventen ohne Abitur. An der Spitze nach Studierendenzahlen liegen auf den ersten zehn Plätzen vor allem Hochschulen mit Fernlernangebot.

„Weil die Studienanfänger im Durchschnitt zehn Jahre älter und schon in einer anderen Lebensphase sind als Abi­turienten“, analysiert CHE-Projektleiterin Sigrun Nickel, „stehen Fernstudiengänge bei Berufstätigen, die ihre Aufstiegschancen verbessern wollen, hoch im Kurs.“

Platz eins verteidigt seit Jahren die staatliche Fernuniversität Hagen, die Teilzeitstudierende nur rund 200 Euro Beiträge pro Semester kostet. Elf Prozent aller Fernuni-Studenten und -Studentinnen haben kein Abitur, im Bachelor-Studiengang Wirtschaftsinformatik liegt der Anteil bei 27 Prozent und in der Wirtschaftswissenschaft bei 17 Prozent.

Auf Platz zwei in der CHE-Liste folgt die staatlich anerkannte Internationale Hochschule (IU) und auf Platz drei liegt die ebenfalls staatlich anerkannte private Diploma Hochschule.

Die berufsnahen Studiengänge sind besonders anziehend. Unter allen Fächern, analysiert das CHE, entfallen 55 Prozent auf die Gruppe Recht, Wirtschaft, Sozialwesen, und davon wiederum 39 Prozent auf wirtschaftswissenschaftliche Schwerpunkte. In den Ingenieurwissenschaften studieren 20 Prozent ohne Abitur.

Von der Krankenschwester zur Pflegemanagerin, vom Verfahrensmechaniker zum Maschinenbauingenieur, von der Fachkraft für Abwassertechnik zur Trinkwasseringenieurin oder vom Industriekaufmann zum Wirtschaftsingenieur – solche Aufstiege rechnen sich in Zeiten des Fachkräftemangels. Und zwar für den Berufstätigen wie für seinen Chef, wenn dieser das Studium unterstützt oder nach dem gelungenen Abschluss einen Karriereschritt garantiert.

Flexibel studieren

Im Online-Studienführer des Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) kann sich jeder nach Bundesländern sortiert über die Anerkennung beruflicher Leistungen und die Studienfinanzierung informieren. Außerdem sind die regionalen Weiterbildungsberater der Handwerkskammern und der Industrie- und Handelskammern verlinkt.

www.studieren-ohne-abitur.de

Belastbarkeit bewiesen

Diesen Weg geht gerade Hotelier Daniel Brintrup. Für sein Haus Brintrup in Münster mit 36 Betten, einem Restaurant und 22 Mitarbeitenden stellte er unter drei Bewerbern eine gelernte Friseurin ein, die nun im dualen Studium an der IU Tourismusmanagement belegt hat.

Im Wechsel paukt sie eine Woche zu Hause oder auf dem Dortmunder Campus für die Bachelor-Prüfungen und lernt in der nächsten alles, was in einem gastronomischen Betrieb praktisch anfällt: Küche und Lohnbuchhaltung, Lagerhaltung und Zimmerservice. Rund 12.000 Euro pro Jahr lässt sich Hotelier Brintrup die Qualifizierung kosten.

„Ich setze darauf, dass die Studentin Ideen mitbringt, die wir im Haus umsetzen können“, sagt der Unternehmer. „Und natürlich hoffe ich, dass ich langfristig eine Tourismusfachfrau gewinne.“ Wenn es klappt, hat Daniel Brintrup in einem Jahr „eine Mitarbeiterin, die viel mehr als Papier gesehen und die Doppelbelastung durchgestanden hat“.

Mittelständische Arbeitgeber, die ihre Führungskräfte oder sogar ihre Unternehmensnachfolger aufbauen wollen, müssen für jeden Mitarbeiter den geeigneten Pfad finden. Wie lange ein Studium dauert, was als berufliche Vorerfahrung anerkannt wird und wie viel das Studium kostet, hängt von den Fächern, den Hochschulen und den persönlichen Abschlüssen ab.

An Fernhochschulen kann sich jeder direkt bewerben. Aber es gibt auch andere Wege zum Bachelor: Manche Hochschulen laden zur Eignungsprüfung ein, Schulministerien bieten eine Begabtenprüfung für Leute ab 25 Jahre. Und auch über die Aufstiegsfortbildung zum Techniker oder Meister erlangt man eine Hochschulzulassung.

 

Büffeln auf Probe

Zeitsparend kann ein Probestudium sein, wie es die Internationale Hochschule (IU) in Erfurt für ihre Standorte aufgelegt hat: Nach zweijähriger Ausbildung plus dreijähriger Berufspraxis kann der Studierende starten, muss in den Probesemestern Prüfungen bestehen, die, wenn er weitermacht, angerechnet werden.

„Gerade den Spätzündern kommt diese Öffnung zugute“, sagt IU-Prorektorin Regina Cordes. „Wer erst während der Ausbildung seine wahren Stärken in einem bestimmten Fach entdeckt, kann dann anschließend auch im Studium durchstarten.“ Diese Durchlässigkeit stellt hohe Anforderungen an die Hochschulen.

„Die Studierenden sind sehr reflektiert und zielgerichtet“, sagt Walter Niemeier, Prorektor der Fachhochschule des Mittelstands (FHM) in Bielefeld. „Sie messen uns an der Praxis, denn sie probieren im Betrieb aus, ob es klappt, was wir sagen.“

Die meisten Berufstätigen studieren in Teilzeit. Unternehmer können die paukenden Beschäftigten für Prüfungen und die Prüfungsvorbereitung freistellen oder die Arbeitszeit während des Studiums reduzieren. Die Übernahme von Studienbeiträgen oder ein Zuschuss kann sich in Mitarbeitertreue auszahlen.

Die Kosten muss sich jeder individuell ausrechnen lassen, weil die anrechenbaren Vorkenntnisse sich auf die Studienzeit auswirken. In der IU zahlen Studierende für Wirtschaftsfächer im Fernstudium rund 200 bis 300 Euro pro Monat.

An der staatlich anerkannten privaten FHM liegen die Studienbeiträge zwischen 325 und 450 Euro, gestaffelt nach Fächern und Studienort. 299 Euro zahlen Studierende für den berufsbegleitenden Bachelorstudiengang Betriebswirtschaftslehre & Unternehmensführung von der Handwerkskammer für München und Oberbayern und der Hochschule München.

„Mitarbeitern ein berufsbegleitendes Studium zu ermöglichen, ist ein wirksames Instrument für Handwerksbetriebe, um den Führungsnachwuchs auszubilden und zu binden“, argumentiert Franz Xaver Peteranderl, Präsident der Handwerkskammer für München und Oberbayern.

Passiert das nicht, werden Mitarbeiter von sich aus aktiv. Wie Alexander Baron, der seit März bei der FOM in Köln eingeschrieben ist. Sein Ziel: Master in Technologie- und Innovationsmanagement. „Dann eröffnen sich viele Jobchancen etwa im Projektmanagement oder als Baustellenleiter im Anlagenbau“, sagt der Shell-Mitarbeiter.

Alle fünf Jahre ein neues Jobprofil würde ihm gefallen, beständig ist Baron nur in der Region: Er baut gerade in Wesseling mit seiner Familie ein Haus, denn an dem Chemiestandort sieht er langfristig gute Verdienst- und Aufstiegschancen.

Erste Orientierungshilfe

Die Studienmodelle sind sehr unterschiedlich. Ein erster Überblick über das Angebot: