Seit Monaten beherrschen die Spähangriffe der Geheimdienste die Schlagzeilen. Herr Dr. Erdmann, Sie sind der Vorstandssprecher der führenden Genossenschaft in der Bürowirtschaft. Deshalb die Frage an Sie: Ist Datensicherheit ein neuer Markt für Ihre Händler?
Nein. Meiner Kenntnis nach gibt es in unserer Branche nur die Firma Leitz, die auf Cloud Computing setzt und den Ordner ins Internet bringt. Aber bei der Dimension, die dieses Thema hat, kann ich mir nicht vorstellen, dass ein Produkt existiert, mit dem alle Probleme gelöst werden können. Einen Vorteil hat die Auseinandersetzung aber schon: Je unsicherer die Welt wird, desto wichtiger werden die Genossenschaften. Denn die Genossenschaft ist eine Rechtsform, die auf Sicherheit gepolt ist. Unsere Aufgabe besteht darin, objektive und vor allem subjektive Sicherheit zu bieten. In einer Gesellschaft, in der mehr und mehr ein Gefühl der Ohnmacht herrscht, fühlen sich die Menschen bei uns aufgehoben und beschützt. Sicherheit ist daher ein wichtiges, wenn nicht sogar das wichtigste Alleinstellungsmerkmal von Genossenschaften.
Erklärt das auch die rasant gestiegene Zahl neu gegründeter Genossenschaften?
Ja, ich habe schon das Gefühl, dass die Genossenschaften gut nach vorne gekommen sind. Die Gründe dafür sind vielfältig. Die Verbände haben gute Arbeit gemacht, die Werbekampagne der Volksbanken hat das Meinungsbild positiv beeinflusst und natürlich hat die Weltfinanzkrise die Solidität dieser Rechtsform ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt.
Bei aller Anerkennung für die Neubelebung – Genossenschaften gelten auch als schwerfällig, altbacken und sehr deutsch.
Genossenschaften haben kein kapitalistisches Unternehmensimage, vielmehr eilt ihnen der Ruf der Kooperative, der Selbsthilfeorganisation, des Alternativen nach. Genossenschaften schwimmen deshalb niemals oben auf der Welle, sind keine Innovationsführer. Aber sie sind auch nie ganz am Boden. Während viele hochgelobte Unternehmen schon lange vom Insolvenzverwalter abgewickelt wurden, sind die meisten Genossenschaften noch immer da.
Lassen Sie uns mal konkreter werden und zunächst von den Herausforderungen reden, vor denen Ihre Branche, die Bürowirtschaft, steht.
Das große Thema ist die Digitalisierung des Büros. Ich spreche dabei nicht vom papierlosen, ich spreche vom papierarmen Büro. In den USA ist in den vergangenen Jahren das Volumen an bedrucktem Papier bereits um 15 Prozent gesunken. Das hat Folgewirkungen. Denn was nicht gedruckt wird, das wird auch nicht abgelegt. Die Digitalisierung reduziert also alle Formen der Registratur, vom Ordner bis zur Büroeinrichtung.
Um die Lücke zu schließen, müssen Sie für Ihre Händler also neue Märkte erschließen.
Ja, zum Beispiel im Bereich Drucken und Kopieren. Managed Print Service – abgekürzt MPS – ist ein interessanter Markt. Hinzu kommt, dass das Büro ein individueller Ort ist, der sehr persönlich ausgestattet werden kann. Ich denke außerdem an den Kantinenbedarf, an Produkte für den Arbeitsschutz und die Arbeitssicherheit oder an C-Teile im Produktionsprozess.
Arbeitsschutz, C-Teile beim Bürohändler – ist das Ihr Ernst?
Warum nicht? Wenn der Händler ohnehin gewerbliche Kunden beliefert, einen Handwerker zum Beispiel, warum soll er nicht Atemschutzmasken oder Sicherheitsschuhe mit im Sortiment führen? Vor Jahren versorgte fast ausschließlich der Lebensmittelhandel die Büros mit Kaffee und Konferenzgebäck, heute ist das bei uns ein etabliertes Segment.
Digitalisierung bedeutet aber nicht nur papierarmes Büro, sondern auch Konkurrenz durch preisaggressive Internethändler …
Deshalb kann jeder unserer Händler morgen anfangen, online zu vermarkten. Wir helfen ihm dabei. Etwa die Hälfte unserer rund 500 Mitglieder ist mittlerweile mit einem Webshop im Internet vertreten.
Dabeisein ist aber nicht alles.
Das Problem ist in der Tat, dass über diese Webshops zu wenig Umsatz läuft. Vielen Mitgliedern fehlt auf diesem Feld noch die Erfahrung und das Know-how. Wir erleben hier auch eine geringe Investitionsbereitschaft. Vor allem, wenn es darum geht, Kapazitäten reinzustecken, Budgets zu definieren, dann wird es schwer.
Was können Sie dagegen tun?
Im Augenblick bieten wir Shops, Beratung, Schulung und Vermarktungspakete. Irgendwann müssen unsere Mitglieder aber erklären, ob sie in diesem Geschäft tätig sein und investieren wollen. Wenn die Mitglieder nicht dazu bereit sind, dann werden wir darüber diskutieren müssen, ob Soennecken das tut.
Wird an diesem Beispiel nicht schon deutlich, wie schwer sich Genossenschaften tun, den veränderten Marktbedingungen zu folgen?
Das stimmt. Langsamkeit kann einen Unternehmer zwar vor Fehlern bewahren, aber sie kann auch blockieren und die Existenz gefährden. In Zukunft brauchen wir daher die Möglichkeit, schneller handlungsfähig zu sein, um etwas ausprobieren zu können. Unsere Statuten verhindern zurzeit diese Möglichkeiten. Aber genau daran arbeiten wir. Denn wir müssen realisieren, dass das Internet zu einer Annäherung des Einkaufsverhaltens im privaten und gewerblichen Bereich führt. Die gewerblichen Kunden unserer Mitglieder werden sich häufiger in Onlineshops umsehen – genau wie es die privaten heute schon tun. Das heißt: Die räumliche Nähe verliert an Bedeutung. Es ist daher klug, die Kunden, die online kaufen, mitzunehmen. Gleichzeitig müssen wir die Vorteile im regionalen Wettbewerb herausarbeiten. Die gibt es durchaus. Schon die dauernde Suche nach dem Billigsten kostet sehr viel Zeit. Außerdem wollen viele gewerbliche Kunden eine Betreuung vor Ort oder manchen Artikel sofort abholen.
Sie sagten eben, wenn die Händler nicht wollen, dann steigt Soennecken ein. Wie darf man das verstehen? Wollen Sie reine Online-Händler als Mitglieder aufnehmen oder wollen Sie das Direktgeschäft ausbauen?
Wir würden auch reine Internet-Händler als Mitglieder aufnehmen, wenn sie zu uns passen. Nur weil ein Händler ein anderes Geschäftsmodell hat, ist er ja nicht per se gut oder schlecht. Und was das Direktgeschäft betrifft: Wir machen Direktgeschäfte, aber nur mit Kunden, die mehr als 1.000 Büroarbeitsplätze haben. In diesem Segment sind unsere Mitglieder kaum noch vertreten. Das ist ein nationales Geschäft. Was wir mit Freude feststellen ist, dass seither unsere Dienstleistungen für die Mitglieder besser werden. Wir sind jetzt praktisch Kollegen unserer Händler.
Könnte Sie das auch auf die Idee bringen, einzelne Händler zu übernehmen?
Nein, das machen wir nicht. Es gibt Genossenschaften, die hier hohes Lehrgeld bezahlt haben. Mitunter werden auch nicht die besten Unternehmen zum Kauf angeboten.
Und wenn gute Unternehmen angeboten werden, was dann?
Die Übernahme von Mitgliedsfirmen sehe ich grundsätzlich kritisch. Viel wichtiger ist, sich mit den neuen Geschäftsmodellen, die durch das Internet entstehen, zu befassen. Bei dieser Gelegenheit muss auch eine der ehernen genossenschaftlichen Prinzipien der PBS-Branche auf den Prüfstand. Bisher kümmerten sich die Mitglieder um den Markt, und die Genossenschaft kümmerte sich um die Dienstleistungen für die Mitglieder. Dieser Grundsatz ist nicht falsch, aber er bedarf der Ergänzung, und darum bemühen wir uns.
Ein ziemlich heißes Eisen.
Die Sache ist kompliziert. Das stimmt. Aber nur eine starke Genossenschaft kann die Mitglieder fördern. Und darauf kommt es an. Das Machtgefüge muss allerdings stabil bleiben, die Veränderung der Statuten darf nicht an meine Person gebunden sein. Kein Mitglied weiß, wie lange ich hier tätig sein werde, und ein Nachfolger geht möglicherweise ganz anders mit den Themen um. Die etablierten und gut funktionierenden Kontrollmechanismen dürfen daher auf keinen Fall ausgehebelt werden. Es darf auch keine Parallelaktivitäten geben. Alles muss unter dem Dach der eG geschehen. Alles muss transparent und zum Nutzen der Mitglieder sein. Das ist die Richtschnur.
Warum treten die Händler eigentlich so auf die Bremse? Letztlich ist es doch egal, ob der Gewinn durch den eigenen Laden erzielt wird oder ob eine erfolgreiche Genossenschaft höhere Ausschüttungen überweist.
Dazu kann ich nur sagen: Wenn es gut geht, dann ist alles gut. Das Problem ist nur, wenn es nicht gut geht.
Apropos Bonusausschüttung. Soennecken schüttet seit Jahren mehr aus. Wollen Sie die Händler vor dem großen Wurf gnädig stimmen?
Soennecken hat vor einigen Jahren durch schlecht laufende Geschäfte im Logistikbereich viel Geld verloren und konnte wenig ausschütten. Nachdem wir uns jetzt eine gute Profitabilität erarbeitet haben, wollen wir diese Zeit erst mal genießen. Aber klar, momentan reden wir auch darüber, die Ausschüttung um zehn Prozent zu reduzieren, um Investitionen in die Infrastruktur vornehmen zu können, insbesondere in das Internet. Denn die können wir nicht zusätzlich aus dem laufenden Ertrag stemmen.
Zusammengefasst: Wie sehr wird sich die Mitgliederstruktur verändern – quantitativ und qualitativ?
Ich halte es nicht für unwahrscheinlich, dass wir in zehn Jahren 30 Prozent weniger Händler haben, mit den verbleibenden Händlern aber 30 Prozent mehr Umsatz machen, wobei der Umsatzschub der Großen aus dem Online-Bereich kommen muss.
Das heißt, die Starken werden stärker. Aber was machen Sie mit den Schwachen?
Wir bürgen für die Einkäufe unserer Mitglieder bei der Industrie. Im Kern geht es also immer darum, dass ein Händler in der Lage sein muss, seine Rechnungen zu bezahlen. Sollte er nicht mehr dazu in der Lage sein, dann helfen wir ihm, die Schieflage zu beseitigen. Wenn das nicht greift, müssen wir bedauerlicherweise die Reißleine ziehen. Der harte Schnitt konnte in den letzten Jahren aber fast immer vermieden werden. Denn der Prozess verläuft meist schleichend. Oft werden diese Händler zum Kauf an andere Mitglieder vermittelt oder wir helfen ihnen bei Nachfolgeproblemen, das Geschäft still zu liquidieren.
Wird es in naher Zukunft Fusionen mit anderen Genossenschaften geben?
Fusionen zwischen Genossenschaften gibt es nur in Zeiten wirtschaftlicher Not. Vorher passiert da nichts, denn Genossenschaften stützen sich auf ein ausgeprägtes Zugehörigkeitsgefühl. Vor 13 Jahren haben Soennecken und Büro Actuell fusioniert, aber erst seit zwei, drei Jahren spielt die Herkunft keine Rolle mehr. Das ist übrigens auch der Grund, warum wir uns erst 2007 wieder umbenannt haben: von Branion eG in Soennecken eG. Branion war nicht der Vernunft geschuldet, sondern ein Kompromiss im Zuge der Fusion. Wir haben einen Fantasienamen gewählt, weil Soennecken es nicht sein durfte.
Soennecken gibt es seit 1875. Die Marke hat Hochs und Tiefs erlebt. Steckt denn heute noch Potenzial in ihr?
Aber ja. Nach dem Einstieg in das Großkundengeschäft stellen wir fest, dass der Name einen sehr guten Ruf hat. Soennecken ist außerdem eine Produktmarke. Wir beschäftigen uns daher mit der Frage, welche Produkte im Bürobedarf wir in welchen Preiskategorien führen können.
Und bei den Geschäften vor Ort und im Internet?
Im Internet sehe ich die Marke als Produkt, nicht für unternehmerische Aktivitäten, und auf der Einzelhandelsfläche loten wir Möglichkeiten aus, um ein Markenbild zu prägen. Die Kernfrage ist allerdings: Wo bringt die Marke Soennecken für den Händler einen Mehrwert? Wenn es darum geht, den Namen Soennecken zu nutzen, um die Stärke des Händlers zu dessen Kunden zu kommunizieren, dann bin ich dabei. Ich würde es aber nicht um den Preis tun wollen, die regionale Marke des Fachhändlers in die zweite Reihe zu drängen. Das hielte ich für falsch.
Aber eine schlagkräftige Handelskette vermittelt ebenfalls Sicherheit.
Natürlich wäre es eine schöne Vision, in allen Innenstädten Soennecken-Geschäfte zu haben. Aber ich werde von unseren Mitgliedern bezahlt und muss mich daher immer fragen, was ihnen nutzt.
Fällt es nicht manchmal schwer, mit gezogener Handbremse agieren zu müssen?
Nein, denn ich habe den besten Job, den ich mir vorstellen kann. Auseinandersetzungen um die richtige Strategie gibt es überall, aber ich führe sie am liebsten mit unseren Mitgliedern, und zwar aus einem einfachen Grund. Ich mag unsere Mitglieder. Das sind enorm fleißige Leute, und ich habe großen Respekt vor dem, was sie tun. Meine Tätigkeit hat daher nicht nur etwas mit Geld zu tun, sondern auch mit Sinn. Und mal ehrlich: Wo gibt es das heute noch?
Das Gespräch führte Peter Stippel
Dr. Benedikt Erdmann, 50, ist seit 1996 Mitglied des Vorstandes und seit 2005 Vorstandsprecher der Soennecken eG in Overath bei Köln. Soennecken ist die europaweit größte Einkaufs- und Marketingkooperation mittelständischer Handelsunternehmen der Bürowirtschaft und benachbarter Branchen. Ihr gehören 520 Fachhändler an. 2012 betrug der Jahresumsatz 562 Millionen Euro. Etwa 900 Markenartikelhersteller vertreiben ihre Produkte durch Soennecken. Die Firmenbezeichnung geht auf Friedrich Soennecken zurück. Der im Sauerland geborene Kaufmann erfand im 19. Jahrhundert die schnell zu erlernende Rundschrift. Um die Idee durchzusetzen, produzierte er die passenden Schreibfedern sowie Lehr- und Übungshefte. Daraus entstand einer der bedeutendsten Büromittelhersteller. 1973 ging das Unternehmen in die Insolvenz. Zehn Jahre später erwarb die „Großeinkaufsvereinigung deutscher Bürobedarfshändler (gbd)“ die Markenrechte. 1992 erfolgte die Umbenennung in Soennecken eG.
Genossenschaften sind wieder im Aufwind. Allein in Deutschland stieg die Zahl der Neugründungen von 48 (2005) auf 236 (2012). Mittlerweile ist jeder vierte Deutsche Mitglied einer Genossenschaft. Genossenschaften gibt es nicht nur in der Landwirtschaft, im Handwerk, im Einzelhandel, im Wohnungsbau und im Bankenwesen, sondern auch in den Bereichen Umwelt, erneuerbare Energien, im Dienstleistungssektor, in der Datenverarbeitung sowie im Bildungs- und Gesundheitswesen. Die Entwicklung der Genossenschaft ist untrennbar mit den Namen Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch verbunden. Deren Motto („Einer für alle, alle für einen“) gilt bis heute. Die Mitglieder einer Genossenschaft sind zugleich Eigentümer und Kunden. Wichtige Entscheidungen werden in der Generalversammlung getroffen. Hier hat jedes Mitglied – unabhängig von seiner Kapitalbeteiligung – nur eine Stimme. Genossenschaften gehören einem gesetzlichen Prüfungsverband an und sind deshalb die insolvenzsicherste Rechtsform in Deutschland.