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Fast jedes Geschäftsmodell, jedes Produkt ist heute kopierbar. Die Frage ist nur: Wie viel Zeit oder wieviel Aufwand benötigen Wettbewerber, um eine Kopie herzustellen? Darum müssen Unternehmen die Frage beantworten: Wie lässt sich diese Zeit so weit wie möglich verlängern? Oder gibt es doch Möglichkeiten einen wirksamen Kopierschutz zu entwickeln? Hohe Komplexität durch intensive interdisziplinäre Vernetzung ist die Antwort darauf. Doch bis heute planen viele Unternehmen das nicht strategisch.

In den 1990er-Jahren begann das Nachbauen und Kopieren von Produkten, insbesondere in Asien. Japan machte es vor und China kopierte wiederum dieses Prinzip. Plötzlich konnten industrielle Waren, teils qualitativ gleichwertig, mit geringeren Lohnstückkosten produziert werden. Viele asiatische Länder bauten darauf ihre ganze Volkswirtschaft auf. Gleichwohl war das Kopieren recht aufwändig: Know-how, Modelle, Fertigungsverfahren, Lieferketten – kaum etwas war elektronisch hinterlegt. Wissen mussten sich die Kopierer manuell aneignen. Viele Reisen wurden getätigt, viele Versuchsreihen gingen schief. Und so konnte die westliche Industrie ganz nach dem Motto leben: Sind unsere Produkte erst kopiert, sind wir ohnehin schon in anderen Märkten unterwegs.

Dieses Denken endet mit dem digitalen Wirtschaftszeitalter: Wissen steht in Echtzeit weltweit zur Verfügung. Cyber-Spionage erlaubt es, detailliert auf Baupläne, Kalkulationen, Material und sogar Supply Chains zuzugreifen – wenn das alles nicht ohnehin öffentlich ist. Zwischen Geschäftsmodellen, insbesondere bei Dienstleistungen, und Produkten gibt es kaum noch einen Unterschied. Auch in Deutschland existieren Unternehmen, die sich darauf spezialisiert haben, Geschäftsmodelle anderer zu kopieren – mit dem Anspruch, die Umsetzung besser zu gestalten und damit einen Markt dominieren zu können.

Eins unterscheidet die 90er von der digitalen Neuzeit nicht: Stets ging es einzig um den zeitlichen Vorsprung, den ein Unternehmen hatte, bis sein Geschäftsmodell oder sein Produkt kopiert war. Der wesentliche Unterschied ist jedoch: Diese Zeitspanne ist heute nahezu exponentiell geschrumpft. Darum müssen sich Unternehmen fragen: Wie kann es unter diesen Rahmenbedingungen dennoch gelingen, längerfristig wettbewerbsfähig zu bleiben?

Das Paradoxon: Open Innovation macht Kopieren nicht einfacher – sondern signifikant diffiziler

Die Antwort wird viele durchaus erstaunen: Auch aufgrund der dargelegten Historie, arbeiten Asiaten heute überwiegend abgeschottet – um sich selbst vor Kopierern zu schützen. Entgegen internationaler Trends haben sie die Angewohnheit, möglichst viele Schritte in der Wertschöpfungskette selbst abzubilden. Sehen dabei jedoch nicht, dass genau dieses Vorgehen – übrigens das Vorgehen in den westlichen Industrienationen der vergangenen Dekaden – dazu geführt hat, dass Kopien vergleichsweise einfach erstellt werden können. Quasi aus einer Hand.

Dies können sich westliche Unternehmen zunutze machen, indem sie genau gegenteilig arbeiten: Paradoxerweise führt ‚Open Innovation’, wie es häufig in digitalen Kreisen genannt wird, nicht dazu, das Wissen schneller abgesaugt oder kopiert werden kann. Sondern es erschwert dies signifikant, wie folgendes Beispiel zeigt:

Wenn die Weiterentwicklung von Bauteilen teils ausgelagert beim Zulieferer stattfindet, wissenschaftliche Institutionen wie Universitäten und Entwicklungsbüros wichtige Impulse zur Produktinnovation setzen, Dritte die Veredelung übernehmen, die IT teils extern gesteuert wird und der Vertrieb über Partner stattfindet – dann ist ein solches Konstrukt sehr schwer zu kopieren. Oder aber mindestens sehr teuer und damit nicht notwendigerweise wettbewerbsfähig. Ingenieure würden sagen: Gelingt es, Stoffkette mit Engineering-Kette mit Logistikkette an verschiedenen Punkten über unterschiedliche Firmen zu vernetzen, ist ein solch hoher Komplexitätsgrad erreicht, dass der Aufwand für „Copy Cats“ erheblich steigt. Selbst wenn Dritte es schaffen, Prozesse zu verstehen und nachzumodellieren, ist nach wie vor nicht geklärt: Wie werden diese Prozesse erfolgreich geführt? Und: Woher kommen die entsprechenden Partner, die über die Fähigkeit verfügen, ähnliche Produkte und Dienstleistungen beizusteuern?

Notwendig ist es in dem Fall, dass alle am Wertschöpfungsprozess Beteiligten über solch spezifisches Know-how verfügen, dass sie nicht bei einer Nachmodellierung der Prozesse eins zu eins von einem Wettbewerber intern umgesetzt werden können. Was gleichzeitig das Risiko einer gewissen Abhängigkeit gegenüber einzelnen birgt. Dieses Risiko ist nur dadurch zu senken, indem man kritische Aufgaben beim Ausfall eines Partners entweder sehr schnell auf einen anderen überträgt – oder aber im schlimmsten Fall auch intern durchführen könnte. Das heißt, die Anlage zur Eigenbearbeitung muss da sein. Sie ist aber heute mehr Notlösung als die bestmögliche Option.

Die richtige Organisation als Voraussetzung für die praktische Umsetzung

Für eine Überführung der oben beschriebenen Idee in die Realität, müssen viele Unternehmen die eigene Organisationsform überprüfen: Befördert diese Komplexität, Vernetzung und Know-how-Bildung – oder behindert sie dies eher? In der Realität sehe ich, dass zu viele Unternehmen nach wie vor in Form von Silos aufgebaut sind: Einzelne Abteilungen arbeiten nebeneinander und nicht miteinander, die Schnittstellen finden nur an den absolut notwendigen Punkten statt. Gerade moderne Internet-Unternehmen, ob aus dem Silicon Valley, Tel Aviv oder auch Berlin ticken komplett anders: interdisziplinäre Teams, Job-Rotation, Projekt-Spirit. Wer Querdenker braucht, kann seine Organisation nicht vertikal führen. Und diese Querdenker sind es, die den Unterschied machen.

Damit einher geht das Thema Mensch: Die langfristige Bindung von Know-how-Trägern an das Unternehmen – teils auch über die normale Altersgrenze hinaus. Ein Modell, das beispielsweise in der Sicherheits- und Rüstungsindustrie schon lange Anwendung findet. Wissensträger werden langfristig als Berater eingebunden. Auch, damit sie ihr Wissen nicht Dritten – möglichen Kopierern – zur Verfügung stellen können. Was sich profan anhört, habe ich allzu selten beobachtet. Da werden Schlüsselpersonen ziehen gelassen oder gar zur Abwanderung ermuntert. Und das in einer Zeit, in der sie problemlos kommunikativ mit dem internationalen Wettbewerb in Kontakt treten können. Hier bedarf es nicht nur strenger arbeitsvertraglicher Regeln. Sondern vor allem einer gezielten Incentivierung, Loyalität auch nach dem Ausscheiden aus einem regulären Arbeitsverhältnis aufrecht zu erhalten.