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Dass das deutsche Gesundheitssystem funktioniert, hat es in der Corona-Krise bewiesen. Doch es funktioniert zu analog, auch das wurde während der Krise deutlich. Nur langsam tut sich etwas – vor allem dank zahlreicher findiger E-Health-Startups.
Patienten mit auffälligen Hautveränderungen, die sie beunruhigen, müssen oft vier, fünf Wochen oder noch länger auf einen Termin beim Hautarzt warten. „Das ist inakzeptabel“, sagt Dr. Alice Martin. Zusammen mit drei anderen jungen Medizinern hat sie das Startup Dermanostic gegründet, einen Online-Hautarzt.
Ihn kann seit April jedermann via App konsultieren – schnell und problemlos. „Innerhalb von 24 Stunden erhält der Patient eine Diagnose und Therapie, bei Bedarf außerdem ein Rezept per Post“, erklärt Hautärztin Martin. Die Kosten pro Befund betragen 25 Euro.
Deutschland hinkt bei der Gestaltung des digitalen Wandels in puncto Gesundheit anderen Nationen hinterher. Das ist spätestens seit der Veröffentlichung der #SmartHealthSystems-Studie der Bertelsmann Stiftung unbestritten.
Im Ranking der Länder liegt die Bundesrepublik auf Platz 16 von 17. Ob elektronische Medikationsliste oder Gesundheitsinformationsportal – überall geht es seit Jahren nur schleppend voran.
Erst durch das 2019 in Kraft getretene „Gesetz für eine bessere Versorgung durch Digitalisierung und Innovation“ (Digitale-Versorgung-Gesetz – DVG) „wurde eine Bremse gelöst“, sagt Erwin Böttinger, Professor für Digital Health und Personalisierte Medizin an der gemeinsamen Digital-Engineering-Fakultät des Hasso-Plattner-Instituts und der Universität Potsdam.
Das DVG habe vielen Digital-Health-Entrepreneuren die Tür geöffnet, etwa durch die Möglichkeit von Gesundheits-Apps auf Rezept. Auch Alice Martin begrüßt das DVG: „Dadurch werden Innovationen vorangetrieben.“
Bedauerlich sei nur, dass das Gesetz „sehr spät kommt“. Andere Länder hätten Deutschland mehrere Jahre E-Health-Erfahrungen voraus, „die es jetzt erst mal aufzuholen gilt“.
Mit angezogener Handbremse
Laut Professor Böttinger wird der Ausbau von Digital Health in Deutschland weiter durch einige „Handbremsen“ behindert. Dazu gehören etwa die allzu restriktive Auslegung der EU-Datenschutz-Grundverordnung und die mangelhafte IT-Infrastruktur in Kliniken und Praxen: „Hier ist in den letzten Jahren viel versäumt worden.“
Eine bessere technische Ausstattung der ärztlichen Häuser würde auch Gesundheits-Gründern den Marktzugang erleichtern: „Gute IT-Rahmenbedingungen sind viel wichtiger als riesige Wagniskapitalsummen.“
Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Anbieter digitaler Lösungen im Gesundheitsbereich hat die Managementberatung Porsche Consulting untersucht.
„Die neue Realität wird nicht so sein wie die bisherige“, fasst Roman Hipp, Senior Partner bei Porsche Consulting, die Ergebnisse der Studie „The Rise of Digital Health“ zusammen.
Zu den bereits vor der Krise begonnenen Trends, die durch den Ausbruch des Virus und dessen Bekämpfung zusätzlich an Bedeutung gewonnen haben, gehören demnach Gesundheit und Sicherheit sowie Digitalisierung – also zwei Entwicklungen, die zu einer steigenden Nachfrage nach Digital-Health-Leistungen führen.
Dabei spielen den Anbietern auch Paradigmenwechsel in die Karten: Die Daten-Silos mit unterschiedlichen Patienteninformationen werden nach und nach aufgebrochen. Hipp nennt das „eine Wandlung hin zum patientenzentrierten Gesundheitswesen“.
Außerdem werde das Gesundheitswesen künftig noch stärker durch präventive Medizin gekennzeichnet sein. Und drittens würden die Face-to-Face-Diagnostik und -Therapie durch virtuelle Instrumente wie die Video-Sprechstunde „zum Wohle der Patienten“ ergänzt.
Beschleunigung durch Corona
Laut Hipp haben viele Entwicklungen durch Corona „enorme Beschleunigungen“ erfahren. Ein Beispiel sei die Telemedizin. Durch sie hätten in den letzten Wochen auch Patienten mit Angst vor überfüllten Wartezimmern oder aus ländlichen Regionen einfachen Zugang zum Gesundheitswesen bekommen.
Ein Startup, das die Transformation im Gesundheitswesen mitgestaltet, ist etwa die Firma Teleclinic, die Onlinesprechstunden anbietet.
Seit März werden bei Corona-Verdachtsfällen kostenfrei ärztliche Beratungen durchgeführt, seit April können Patienten mit Verdacht auf eine COVID-19-Infektion selbst einen Abstrich vornehmen, der im Labor untersucht wird. Teleclinic erwartet für das Gesamtjahr eine Verfünffachung der Beratungsgespräche.
Seit 2015 hat der Shootingstar neun Millionen Euro Wagniskapital eingesammelt. Derzeit bereitet er seine B-Finanzierungsrunde vor. Die Hoffnungen sind groß.
Das schwedische Startup Kry, ebenfalls Anbieter von Videosprechstunden und 2015 gestartet, hat seit Gründung in drei Finanzierungsrunden von Investoren schon fast 220 Millionen Euro erhalten, davon 140 Millionen Euro in der C-Runde im Januar 2020.
Auf frisches Kapital sind die meisten Startups der jungen Branche angewiesen. Vom Tagesgeschäft können nur wenige leben, vor allem nicht produzierende Unternehmen.
Gerade unter ihnen gibt es bei kleinen wie großen Companys „vielfach unmittelbare existenzbedrohliche Situationen“, warnt Paul Brandenburg, Vorstand des Spitzenverbands Digitale Gesundheitsversorgung.
In der Vergangenheit haben sich viele Kapitalgeber zurückgehalten, weil sie nicht operativ in das Management eingreifen dürfen, was aber bei unerfahrenen Unternehmern „dringend geboten“ sei, sagt Markus Müschenich vom Inkubator Flying Health.
Die boomende Nachfrage der letzten Wochen und der Imagegewinn als systemrelevante Branche könnte indes so manchen Business Angel künftig doch auf die Digital-Health-Karte setzen lassen.
Entlastung in der Praxis
Wie Teleclinic sorgt auch Dermanostic für eine Entlastung des Praxis- und Krankenhauspersonals: Der Patient wird von der App intuitiv durch die Onlinepraxis geführt, lädt Fotos von seiner Hautveränderung aus drei Perspektiven hoch und beantwortet einen einfachen Fragebogen.
Ähnlich ist das Procedere auch bei den beiden Wettbewerbern AppDoc und Onlinedoctor24. Zwischen Mitte April und Mitte Mai hat Dermanostic rund 1.000 Patienten kostenlos betreut. „80 Prozent von ihnen mussten danach keine stationäre Praxis mehr aufsuchen“, berichtet Gründerin Martin.
Bei einem halben Dutzend Patienten hätten die Dermanostic-Fachärzte anhand der Fotos Hautkrebs erkannt: „Diese Menschen haben wir bis zu ihrem Termin im Krankenhaus begleitet.“
Dabei hatte das Coronavirus die Gründer zunächst gebremst: Nach dem Shutdown überschwemmten viele neue Applikationen die digitalen Vertriebsplattformen. Die Prüfverfahren für die Zulassung zu den App-Stores dauerten. „Das hat unseren Start um etwa drei Monate verzögert“, blickt Alice Martin zurück.
Trotzdem hält sie strenge Prüfungen telemedizinischer Anwendungen und ihrer Anbieter für richtig: „Schließlich arbeiten wir mit sensiblen Patienten- und Gesundheitsdaten.“
Finanziell hat der spätere Markteintritt das Düsseldorfer Startup, dessen Bewertung nach der ersten Finanzierungsrunde bei rund zwei Millionen Euro liegt, nicht aus dem Gleichgewicht gebracht:
Gründungskosten und Erstinvestitionen lagen bei nur knapp 100.000 Euro. Hauptkostenblock der Service-Company: die IT. Digital-Health-Jungunternehmen, die Produkte oder Anlagen produzieren müssen, beispielsweise Blutdruckmessgeräte, haben deutlich höhere finanzielle Bedarfe.
Rezept per Smartphone
Zu den Projekten, die durch COVID-19 beschleunigt wurden, gehört das elektronische Rezept: Es soll in Deutschland flächendeckend zwar erst am 1. Januar 2022 eingeführt werden.
Doch die Pandemie hat Krankenkassen, Ärzte, Apotheker und Digital-Health-Anbieter veranlasst, nach Möglichkeiten zu suchen, schon jetzt eine praktische Lösung anzubieten, mit der Kontakte vermieden und Infektionsrisiken gesenkt werden.
Die Techniker Krankenkasse und die Unternehmensgruppe Noventi, größter deutscher Abrechnungsdienstleister im Gesundheitswesen, haben dafür ad hoc das Projekt „Deutschlands eRezept“ aufgesetzt.
Gemeinsam wurde eine App entwickelt, „durch die jeglicher direkte Körperkontakt über den gesamten Prozess von der ärztlichen Behandlung bis zur Arzneimittelübergabe ausgeschlossen wird“, sagt Hermann Sommer, Vorstandsvorsitzender von Noventi.
Der Patient ruft seinen Arzt an, der ihm nach einer Audio- oder Videodiagnose das Rezept aufs Smartphone schickt. Das leitet der Patient an seine Apotheke weiter, deren Bote die Bestellung ins Haus bringt. Anfang Mai ging es los, 800 Vor-Ort-Apotheken machen bereits mit.
Zu den digitalen Tools aus dem Hause Noventi gehören auch Warenwirtschaftssysteme und Software mit einfach zu handhabenden elektronischen Programmen mit intuitiver Benutzeroberfläche.
Sie sind in rund 2.000 ambulanten und stationären Pflegediensten in Deutschland im Einsatz. „Pflegerinnen und Pfleger haben ihren Beruf gewählt, weil sie für die Menschen da sein wollen.
Für sie ist Software nur dann eine Hilfe, wenn sie ihnen mehr Zeit für die Patienten verschafft“, sagt Sommer. Um in der Corona-Krise dazu beizutragen, die erforderlichen Verhaltensweisen und Schutzmaßnahmen der breiten Bevölkerung zugänglich zu machen, hat Noventi gemeinsam mit Facebook, WallDecaux und BILD die „Initiative gegen Corona“ ins Leben gerufen.
Sie mahnt zum Beispiel, den Vorrat der notwendigen Materialien für Mitarbeitende im Gesundheitsbereich und in der Pflege nicht durch Hamsterkäufe zu beeinträchtigen.
Mit dem Digital-Health-Index vergleicht die Bertelsmann Stiftung den Digitalisierungsgrad der Gesundheitssysteme von 17 Ländern. In die Bewertung fließen Faktoren ein wie Digitalisierungsstrategien, vorhandene technische Möglichkeiten und die tatsächliche Datennutzung. Ergebnis: Deutschland landet abgeschlagen auf Platz 16 von 17.