Egal ob Hidden Champion oder einfach nur solides mittelständisches Unternehmen, der Firmenname ist oft kaum bekannt, die nächste Großstadt weit entfernt, Flair und Freizeitmöglichkeiten überschaubar. Das ist die Situation vieler Unternehmen, die es oft besonders schwer haben, gute Führungskräfte für sich zu gewinnen. Ein mögliches Gegengewicht zur Strahlkraft urbaner und bekannter Arbeitgeber ist eine erlebbare Unternehmenskultur mit einer ausgeprägten Wertschätzungskultur. Ein Aspekt, auf den gerade junge Führungskräfte achten und mit der sich Unternehmen positiv abgrenzen können, wenn das Thema richtig verstanden und gelebt wird.
Auch wenn die „Unsere-Mission“-Tafeln im Foyer und der Karriere-Bereich der Firmenwebsite oft das Gegenteil verkünden: Im Kern sind viele Unternehmen hierzulande nach wie vor klassisch zahlen- und ertragsorientiert und werden tendenziell immer mehr, während die gezielte Auseinandersetzung mit menschlichen Rahmenbedingungen nur oberflächlich und unter dem Aspekt „angenehmer Luxus“ behandelt wird. Bei genauerer Betrachtung ist diese Rahmenbedingung sowohl wegen höherer Arbeitgeberattraktivität als auch wegen der Leistungsfähigkeit einer Organisation ein unterschätzter maßgeblicher Wettbewerbsfaktor. Bestes Beispiel dafür ist das Thema Wertschätzung. Sie spricht, wenn richtig gelebt, die wichtigsten Grundbedürfnisse des Menschen an. Es sind die Bedürfnisse nach Wahrnehmung und Anerkennung. Um die besondere Bedeutung dieser Bedürfnisse noch einmal hervorzuheben: Das Ignorieren ist bei der Kindererziehung eine der härtesten Strafen.
Regelmäßig erscheinen immer wieder neue Studien, die belegen, wie sehr es hier in vielen Unternehmen mangelt. Ein Bild, das sich auch in Arbeitgeber-Bewertungsportalen wie kununu bestätigt. Dabei lohnt sich Wertschätzung nicht nur atmosphärisch. So ergab zum Beispiel eine Untersuchung von Rochus Mummert (Aufsichtsrat-Studie 2017), dass Unternehmen mit einer gelebten Wertschätzungskultur profitabler und weniger krisenanfällig sind.
Wichtige Grundlage: Klarheit, was Wertschätzung ausmacht
Oft beginnt das Problem schon beim Begriff selbst. Viele Entscheider setzen Wertschätzungskultur oder den „wertschätzenden Umgang“ zum Beispiel mit bloßem Loben, Vermeidung von Kritik und Bio-Äpfeln auf jedem Schreibtisch gleich.
Wertschätzung ist in der korrekten Ausgestaltung allerdings die individuelle, ehrliche und transparente Auseinandersetzung mit jedem Kollegen und Mitarbeiter. Nur dann fühlt sich ein Mitarbeiter als Individuum wahrgenommen. Eine berechtigte, wohlwollende, auch mal sehr deutlich vorgetragene Kritik im Vier-Augengespräch wird mehr als Wertschätzung wahrgenommen, als generelle Ansagen oder pauschales Lob.
Es gibt zahlreiche Aspekte, die eine gelebte Wertschätzungskultur auszeichnen. Mehrere Rochus Mummert-Studien haben beispielhaft die folgenden Eigenschaften wie offenes Kommunizieren über Positives wie Negatives, angstfreies Miteinander, konstrukive Fehlerauseinandersetzung, echtes Vertrauen sowie Eingehen auf die individuellen Bedürfnisse von Mitarbeitern als Indikatoren einer gelebten Wertschätzungkultur herausgearbeitet. Ebenso häufig wurden auch vermeintliche Selbstverständlichkeiten wie Zuhören und gefragt werden oder jederzeitige Transparenz, was im Unternehmen geschieht, herausgestellt. Zeigen kann sich Wertschätzung sowohl verbal als auch durch konkrete Taten, Angebote und Gepflogenheiten. Das beginnt häufig schon damit, dass sich die jeweiligen Vorgesetzten oder Eigentümer bewusst Zeit nehmen, wenn Führungskräfte oder Mitarbeiter ein wichtiges Anliegen besprechen möchten – und damit gerade vor dem Hintergrund der eigenen engen Agenda den „Wert“ des anderen sichtlich schätzen. Gelebte Wertschätzung ist es auch, wenn positive Leistungen und Initiativen regelmäßig bewusst gewürdigt statt stillschweigend als selbstverständlich hingenommen werden – auch als Gegenpol zur bisweilen immer noch anzutreffenden Grundhaltung „Nicht kritisiert ist gelobt genug“. Viele Führungskräfte denken oft mit Blick auf ihre Kommunikation, dass Sie entsprechend handeln. Fakt ist jedoch, dass viele Einschätzungen und Informationen nur in den Köpfen vorhanden sind. In der Realität werden diese allerdings nach dem Motto „andere müssen doch merken, was ich denke“ behandelt und nie oder wenn, in falscher Form ausgesprochen.
Auch Angebote und Regelungen wie beispielsweise ansprechend gestaltete Arbeitsumgebungen, Großzügigkeit beim Wunsch nach Fortbildungen oder stets transparentes und proaktives Informieren über wichtige Vorgänge im Unternehmen sind Ausdruck dafür, dass ein Unternehmen seine Führungskräfte und Mitarbeiter durch individuelles Handeln und individuelle Lösungen wertschätzt. In der Realität kann vieles standardisiert bleiben, um an dieser Stelle ein nicht zu exotisches Bild zu zeichnen. Es sind Nuancen, die den Unterschied machen. Durchorganisierte, effiziente, kommunikativ auf Kennzahlen und Bilanzen getrimmte Organisationen haben oft auch für diese einfach zu realisierenden und individualisierenden Aspekte keinen Platz.
Wertschätzungskultur als letzter sinnvoller gemeinsamer Nenner
In Summe kann aus der richtigen Haltung und dem entsprechenden Tun eine gelebte Wertschätzungskultur entstehen. Sie ist eines der wenigen Beispiele für eine Unternehmenskultur, die angesichts der ausgeprägten mentalen Heterogenität von Führungskräften und Mitarbeitern überhaupt noch realistisch ist, anzustreben – weil sie auf ein elementares Grundbedürfnis fokussiert, das Menschen nach wie vor eint. Dadurch erzeugt sie auch Wirkung im Sinne des Unternehmens. Führungskräfte, die sich wertgeschätzt fühlen, sind kreativer, motivierter und loyaler, bringen sich mehr ein und entwickeln eine stärkere mentale Resilienz. Ergebnisse werden in dieser Kultur qualitativ hochwertiger, Eskalationen seltener, die interne und externer Zusammenarbeit effizienter und Personalfluktuation geringer. Krankenstände sinken und Kunden spüren ebenfalls die Haltung des Unternehmens. In Summe wird die Marktposition gestärkt und nach allen Regeln des Marketings ist eine profitablere Preispositionierung möglich.
Der Ausbau einer Wertschätzungskultur bietet sich auch für all jene Unternehmen an, die noch überhaupt keine wahrnehmbare Kultur besitzen bzw. deren Kultur durch Mergers & Acquisitions (M&A), Gesellschafterwechsel oder Krisenmodus unter die Räder gekommen ist. Ebenso kann eine Neuausrichtung der Kultur vitalisieren, wenn Unternehmen in einer erstarrten und „gestrigen“ Kultur gefangen sind, die Veränderung verhindert, aber auch die notwendige Gewinnung neuer Führungskräfte erschwert.
Flexibel auf Wünsche neuer Führungskräfte eingehen
Speziell beim Recruiting neuer Führungskräfte lässt sich Wertschätzung vor allem durch den Umgang mit den individuellen Bedürfnissen des jeweiligen Kandidaten belegen. Wer als Arbeitgeber mit Sitz jenseits attraktiver Metropolen nicht gleich mit dem Einheitsarbeitsvertrag kommt, sondern sichtlich flexibel ist – etwa bei Themen wie Arbeitszeiten, Arbeitsort, Art der Bezahlung, technisches Equipment, organisatorische Einbindung oder Wunsch nach Weiterbildung oder begleitendem Coaching – kann mitunter trotz Lagenachteil punkten. Dabei versteht es sich von selbst, dass die unternehmerischen Erfordernisse nach wie vor angemessen berücksichtigt sein müssen. Was Unternehmen hier konkret tun können: Für entsprechend gut qualifizierte HR-Mitarbeiter sorgen, die die nötige Leidenschaft und das richtige Know-how für das Finden individueller und maßgeschneiderter Einzellösungen haben. Seitens der Gesellschafter oder Geschäftsführung muss selbstverständlich die Wertschätzung gegenüber den HR-Mitarbeitern gezeigt werden. Darüber hinaus lässt sich eine Wertschätzungskultur speziell im Recruitingprozess bereits mit vermeintlichen Kleinigkeiten demonstrieren, sei es transparentes, proaktives Kommunizieren gegenüber Bewerbern oder schnelles Reagieren auf Rückfragen. Woanders kann es auch einfach schon das pünktliche Dazustoßen einer gut vorbereiteten Eigentümerin beim Kandidaten-Meeting sein.
Auf oberster Ebene beginnen
All das bildet natürlich nur einen Teilbereich und muss mit einem generellen Auf- und Ausbau einer echten Wertschätzungskultur einhergehen, die alle Bereiche und Ebenen umfasst. Sinnvoller Auftakt: Eine Umfrage, wie es aktuell um das Thema Wertschätzung bestellt ist – auch zur regelmäßigen späteren Erfolgskontrolle. Grundlegend zu klären ist auch, an welcher Stelle man beginnt. Führungskräfte sind die maßgeblichen Kulturtreiber, deshalb haben Gesellschafter, Beiräte und allem voran die Geschäftleitung die Verantwortung, durch ihr Handeln, Sprechen, Reagieren die Zielkultur authentisch vorzuleben und zu gestalten.
Ein gemeinsames Reflektieren im engsten Kreis, was Wertschätzung überhaupt ausmacht und welche unternehmerischen wie persönlichen Vorteile damit verbunden sind – ergänzt durch einen ersten Maßnahmenplan – kann ein spürbares erstes Momentum erzeugen. Im weiteren Verlauf sollten auf gleiche Weise auch die weiteren Führungsebenen einbezogen werden, falls nicht schon das Vorleben von oben die gewünschten Effekte auslöst. Für das Recruiting wäre hierbei wichtig, dass Kandidaten neben fachlicher Eignung auch die Fähigkeit aufweisen müssen, Wertschätzung zu leben. Schlüsselpersonen sollten darüber hinaus in Einzelcoachings die Gelegenheit haben, in einem geschützten Raum für sich selbst die nötige Relevanz für das Thema herauszuarbeiten, verbunden mit dem Entwickeln eigener Hebel, Wertschätzung zu leben. In dieser Hinsicht müssen auch Konsequenzen für nachhaltig unsensible Führungskräfte gezogen werden. Der oft geschätzte Fachmann, der sich zwischenmenschlich wie „die Axt im Walde“ verhält und dessen Abteilung regelmäßig durch überdurchschnittliche Krankenstände und Fluktuation auffällt, sollte im Sinne einer Wertschätzungskultur einen individuellen Ausstieg erhalten. Schritt für Schritt kann sich auf diese Weise eine durchgängig gelebte Wertschätzungskultur etablieren, wie sie einzig funktioniert und als aufrecht wahrgenommen wird: Nicht als bloßes „Wissen“, sondern als echte innere Haltung, zu der jeder Einzelne immer mehr gelangt.