Wenn es um das Thema Produktfälschungen und deren Herkunft geht, lautet die erste Assoziation meist China. Nicht zu unrecht, führt das Reich der Mitte doch seit Jahren alle diesbezüglichen Statistiken an. Weit weniger bekannt ist jedoch über die kulturellen und sozialen Umstände, die auf der einen Seite die dortige Fälschungsindustrie begünstigen und auf der anderen deren Bekämpfung erschweren.
Aus europäischer Sicht ist ein tiefergehendes Verständnis der kulturellen und gesellschaftlichen Eigenheiten Chinas und deren Ausprägungen oft nur in Ansätzen gegeben. Als erste Annäherung an das Phänomen Produktpiraterie hilft hier zunächst einmal ein Blick auf die sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen des Landes.
Sozialer Frieden mit allen Mitteln
Produktpiraterie spielt in China gesellschaftspolitisch eine wichtige Rolle und wird daher oft von höchster Stelle geduldet. Erlaubt sie doch einer breiten Bevölkerungsschicht eine gesellschaftliche Teilhabe als Konsumenten von Waren, die sie sich im Original vielleicht niemals leisten könnte. Dies bedeutet für die Regierung in Peking ein wirksames Präventionsinstrument gegen das Aufkommen sozialer Konflikte. Ein nicht zu unterschätzendes Argument in einem kulturell und regional heterogenen Staatsgebilde, das ohnehin nur schwer durch eine zentralistisch geprägte Regierungsform unter Kontrolle zu bringen ist. Auch bieten die in den meist ärmeren ländlichen Gebieten positionierten Fabriken der Produktfälscher der dortigen Bevölkerung eine riesige Anzahl von Arbeitsplätzen und leisten so ebenfalls einen wichtigen Beitrag zum Erhalt des sozialen Friedens.
Produktpiraterie ist jedoch auch von ökonomischer Relevanz für das Land. So trägt sie im Bereich der Investitionsgüter zur Beschleunigung der wirtschaftlichen Entwicklung bei. Auch dies ist in einem Staat, dessen Wirtschaft nach dem Ende der Kulturrevolution im Jahre 1976 völlig am Boden lag, ein nicht unerheblicher Faktor. Nicht zuletzt bietet die Produktpiraterie dem Land auch die Möglichkeit, sein innovation gap zu verkleinern, einem Phänomen, mit dem die Wirtschaft des Global Players nach wie vor zu kämpfen hat.
Auch ein kulturhistorischer Blick in die Geschichte des Landes kann zum Verständnis beitragen. Denn zur historischen Begründung der Produktpiraterie wird oft auch auf die philosophische Konzeption des Konfuzius verwiesen. Dieser interpretierte das Kopieren eines Werkes als Ehrerbietung gegenüber dessen Urheber und als einen wichtigen Schritt zur Vervollkommnung der eigenen Fähigkeiten. Folge dessen ist in weiten Teilen der Bevölkerung ein geringes Bedürfnis nach dem Schutz geistige Eigentumsrechte und ein damit korrespondierender Mangel an Unrechtsbewusstsein bei der Verletzung selbiger.
Justitia nur auf einem Auge blind
Auch ein Blick auf die juristischen Rahmenbedingungen im Reich der Mitte kann einen Beitrag zum Verständnis der Materie leisten.
Denn auch die Bekämpfung von Produktpiraterie mit juristischen Mitteln erweist sich in China als außerordentlich schwierig. Neben den bereits oben erwähnten systemimmanenten Problemen einer zentralistischen Regierungsform gesellen sich noch viele weitere Hemmnisse. So muss man sich vor Augen halten, dass im Laufe der Kulturrevolution zwischen 1966 und 1976 das komplette Justizsystem des Landes dem maoistischen Zerstörungswahn zum Opfer fiel. In dieser Zeit wurden nicht nur alle Gerichte durch Volkstribunale ersetzt und Richter und Anwälte im Zuge dessen arbeitslos gestellt. Auch dem gesamten juristischen Ausbildungsbetrieb in den Universitäten wurde ein jähes Ende bereitet. Nach dem Ende der Kulturrevolution wurde dann unter schwierigen Bedingungen ein neues Rechtssystem etabliert. Dieses bestand zunächst überwiegend aus Polizisten und Militärs, welche in juristischen Schnellkursen an Abendschulen fortgebildet wurden. Erst nach und nach bildeten auch die Universitäten wieder qualifizierte Juristen aus und trugen damit zu einer Professionalisierung des Systems bei. So ist das chinesische Rechtssystem in seiner heutigen Form weniger als 40 Jahre alt, die relevanten Normen zum Schutz geistigen Eigentums wurden gar erst in den 1980er und 1990er Jahren etabliert. Damit verbietet sich ein Vergleich mit den teilweise Jahrhunderte alten europäischen Rechtssystemen a priori.
Eine weitere Ursache für eine schwache gesellschaftliche Position der Justiz ist der in der Bevölkerung weit verbreitete konfuzianische Harmoniegedanke. Der harmonischen Verfassung der Gesellschaft als Kollektiv wird danach stets der Vorrang vor Individualinteressen eingeräumt. Konflikte sind ohne offene Auseinandersetzung zu lösen, also auch ohne die Einbeziehung von Behörden oder Gerichten. Ebenso kommt auch dem Guanxi, dem persönlichen sozialen Netzwerk, in der chinesischen Gesellschaft eine enorme Bedeutung zu. Persönliche Verbindungen sowohl zwischen Individuen untereinander als auch zwischen Individuen und Institutionen oder Unternehmen werden dabei als Mittel zur Konfliktlösung gegenüber den Gerichten weitgehend präferiert. Ein Ausdruck dieser Netzwerke ist ein weit verbreiteter Lokalprotektionismus. Lokale Behörden, Unternehmen und auch Gerichte fühlen sich ihrer Region verbunden und richten ihr Handeln dementsprechend protektionistisch aus.
Die nicht vorhandene Gewaltenteilung im chinesischen Rechtssystem und die damit erreichte Konzentration der Macht in der Kommunistischen Partei stellt ein weiteres Problem dar. Die Justiz nimmt einen untergeordneten Rang ein, unabhängige Gerichte sind im System nicht vorgesehen. Im Gegenteil. Jedem Gericht ist ein Parteisekretär zugewiesen, der auf dessen parteikonforme Urteilsfindung zu achten hat. Gerichtsurteile sind daher stets Ausdruck der aktuellen Richtlinien und Interessen der Kommunistischen Partei und nicht als das Ergebnis einer unabhängigen Rechtsprechung zu lesen.
Nicht zuletzt tragen auch die sozialen Unterschiede in der dezentralen fragmentierten chinesischen Gesellschaft zu einer regional abweichenden und interessengerichteten Rechtsprechung bei. Um Konflikte unter der mehrheitlich armen Bevölkerung in den nördlichen, westlichen und zentralen Regionen des Landes zu vermeiden oder unter Kontrolle zu halten, differiert die Rechtsprechung hier je nach politischer Zielsetzung stark von der in den großen Städten.
Juristische Entwicklung mit Hindernissen
Geistiges Eigentum kann dabei als geschütztes Rechtsgut in China durchaus auf eine lange Tradition verweisen. Die ersten Schutzbestrebungen gab es bereits in der Qing-Dynastie (1616-1911). Das erste Markengesetz folgte 1923, das erste Patentgesetz 1944. Mit der Einführung des Kommunismus im Jahre 1949 verlor der Schutz geistigen Eigentums konzeptionsbedingt jedoch an Relevanz, bevor er in der Zeit der Kulturrevolution wie auch der Rest des Rechtssystems ganz zum Erliegen kam.
Nach dem Ende der Kulturrevolution wurde dann 1984 das erste Patentgesetz der VR China verabschiedet, 1990 das erste Urhebergesetz. China ist seit den 1980er Jahren als Mitglied verschiedener internationaler Wirtschaftsorganisationen bestrebt, seine Gesetzgebung auf dem Gebiet des geistigen Eigentums sukzessive auszubauen. Dies geschieht zum Teil aufgrund externen politischen und wirtschaftlichen Drucks, aber auch mit Hilfe internationaler Kooperationen.
Die Ambivalenz eines Riesen
Wie wird sich das Phänomen Produktpiraterie und dessen Bekämpfung entwickeln?
Die Professionalisierung des chinesischen Rechtssystems macht in den letzten Jahren sukzessive Fortschritte. Die Richterausbildung profitiert nachhaltig von der finanziellen Unterstützung westlicher Industrieländer. Mit der zunehmenden wirtschaftlichen Entwicklung Chinas werden auch immer mehr chinesische Unternehmen Opfer von Produktpiraterie. Damit wächst auch in der einheimischen Wirtschaft das Interesse, ihre geistigen Eigentumsrechte von qualifiziertem juristischen Personal schützen zu lassen. Auch dies wird künftig zu einem immer effektiveren Rechtssystem beitragen. Nicht zuletzt ist der Schutz geistigen Eigentums Teil politischer Programme geworden mit dem Ziel, Anreize für die Erzeugung und Nutzung von Wissen zu schaffen und damit Eigenentwicklungen zu fördern.
Die mittelfristige Entwicklung wird jedoch letztendlich bestimmt von der Ambivalenz zwischen kulturellen Determinanten sowie politischen und wirtschaftlichen Interessen auf der einen und der Entwicklung und Anerkennung des Rechtssystems auf der anderen Seite. Solange China in seinem Zustand als Ein-Parteien-Staat mit einem politisch kontrollierten Rechtssystem ohne Gewaltenteilung oder vergleichbaren Kontrollprinzipien verharrt, wird mit rechtstaatlichen Bedingungen nach europäischem Vorbild so bald kaum zu rechnen sein. Langfristig bleibt jedoch abzuwarten, wie die Bevölkerung dem autoritären politischen System gegenübersteht und ob hier eine Veränderung mit unmittelbaren Auswirkungen auf das Rechtssystem herbeigeführt werden kann.