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Günther Schuh macht beim Autobau so ziemlich alles anders als der Rest der Branche. Er schafft damit, woran die Automobilindustrie bislang scheitert: Elektromobilität für jedermann bezahlbar zu machen.

 

Ordentlich aufgereiht, stehen knapp 20 kleine Elektroautos zur Abholung bereit. Seit NRW-Ministerpräsident Armin Laschet Mitte Mai medienwirksam und laut hupend als erster Privatkunde einen e.GO Life aus dem Werk in Aachen fuhr, produzieren sie beim Elektroauto-Unternehmen e.GO Mobile fleißig Nachschub. Aktuell zwei bis drei Autos pro Tag.

Wenn die Fertigung komplett hochgefahren ist, sollen täglich bis zu 45 e.GO Life vom Band, oder besser gesagt vom Board, rollen. Denn nicht nur der kleine Elektroflitzer für gerade mal 16.000 Euro ist ungewöhnlich, auch seine Produktion unterscheidet sich deutlich von der Arbeitsweise der großen Autobauer.

Ein Fließband sucht man bei e.GO vergeblich. Stattdessen durchläuft jedes Autos auf einem sogenannten Board, einer Art selbstfahrenden Hightech-Palette, alle Stufen der Montage. Große Maschinen, teure Presswerke, Schweißroboter, Öl- und Metallgeruch – ebenfalls Fehlanzeige. In der fußballfeldgroßen Halle geht es kaum lauter zu als in einem Großraumbüro.

Sowohl Konzept und Design des Autos als auch das Layout der Produktion tragen die Handschrift von Günther Schuh. CEO der e.GO Mobile AG steht auf seiner Visitenkarte. Auf weiteren steht Professor für Produktionssystematik und Produktionsmanagement an der RWTH Aachen, Direktor des Forschungsinstituts für Rationalisierung e.V. und Mitglied des Direktoriums des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnologie.

„Die Liste ließe sich weiter fortsetzen“, sagt Schuh. „Ich bin Unternehmer auf der einen und Professor und Wissenschaftler auf der anderen Seite – mit dem Glück, dass meine Hochschule mir eine große Zahl von Nebentätigkeiten genehmigt.“ Warum auch nicht. Er habe eine 80-Stunden-Woche, „sodass ich beide Jobs voll ausfüllen kann“.

 

Die Autoindustrie aufrütteln

Trotz dieses Pensums strahlt Schuh mehr Energie aus als mancher deutlich jüngere Gründer. Wohl auch, weil er es mit 60 Jahren niemandem mehr beweisen muss – er will es einfach. Als Vordenker, Forscher und Multi-Unternehmer rüttelt er die deutsche Automobilindustrie auf und traut sich, andere als die bekannten Wege einzuschlagen, auch gegen Widerstände.

So wie 2010, als er mit seinem Partner Achim Kampker die Firma Streetscooter gründete. Gemeinsam mit Studenten hatten sie einen Prototypen für einen elektrischen Kleintransporter entwickelt und bei der Internationalen Automobil-Ausstellung in Frankfurt vorgestellt – in der Hoffnung, Kooperationspartner aus der Industrie zu finden.

Doch die Branche nahm das Projekt nicht ernst, drückte ihm den Stempel „Jugend forscht“ auf. „Uns fehlte die Unterstützung, aber wir waren von dem Konzept überzeugt“, sagt Schuh. Der Rest ist Geschichte: Zur gleichen Zeit fragte die Post mehrere Konzerne an, ob diese planen, elektrische Nutzfahrzeuge auf den Markt zu bringen. Vergeblich.

Also kamen Post und Streetscooter zusammen. 2014 übernahm die Post das Startup komplett und heute ist Streetscooter mit mehr als 10.000 verkauften Fahrzeugen Marktführer für leichte elektrische Nutzfahrzeuge in Deutschland. „Da kam eins zum anderen“, sagt Schuh. „Weder war geplant, dass wir mal Autohersteller werden, noch, dass die uns Post Streetscooter komplett abkauft.“ Gleichwohl habe der Verkaufserlös natürlich geholfen, nur wenig später e.GO aus der Taufe zu heben.

 

Forscher aus Versehen

Denn so unbedarft, wie er klingt, ist der Professor als Unternehmer bei weitem nicht. Vor Streetscooter gründete er diverse Firmen, von der Softwareentwicklung für Produktionsmanagement über eine Unternehmensberatung für Komplexitätsmanagement in der Produktion bis zur Holding für Hochschulausgründungen.

„Ich wollte immer Unternehmer werden“, sagt Schuh. Als 14-Jähriger half er seiner Mutter bei der Buchhaltung für die Schlosserei des Großvaters. „Es hat mir Spaß gemacht, nach einzelnen Buchungen und D-Mark-Beträgen zu suchen, bis die Bilanz aufgeht.“

Aber auch die Maschinen und Metallbauwerkzeuge, der Geruch in der Werkstatt und der Firmenwagen des Großvaters – ein Opel Diplomat – faszinierten den gebürtigen Kölner. „In die Hochschulkarriere bin ich dann fast versehentlich reingerutscht, weil sie mir so gut gelungen ist.“

Die Unternehmerkarriere des Professor Schuh

1974-1978: Mitarbeit, später Mitgesellschafter im Schlossereibetrieb des Großvaters.

1989: Gründung der GPS mbH (Gesellschaft für Produktstrukturierung und Systementwicklung), Entwicklung einer Software für Komplexitäts- und Variantenmanagement in der Industriesowie dazugehöriger Beratungsdienstleis­tungen.

1996: Umfirmierung der GPS mbH in die Schuh & Co. GmbH.

2010: Gründung der Streetscooter GmbH gemeinsam mit Achim Kampker, 2014 verkaufen Schuh und Kampker das Unternehmen an die Deutsche Post AG.

2015: Gründung der e.GO Mobile AG und Entwicklung des Elektro-Pkw e.GO Life, dessen Verkauf im Mai 2019 startete. Weitere Fahrzeugmodelle sind in Planung.

2019: Vorstellung des Flugzeugprojekts Silent Air Taxi e.SAT. In seinem jüngsten Projekt ist Günther Schuh als CFO der e.Sat GmbH an der Entwicklung eines hybrid-elektrisch angetriebenen und besonders leisen Kleinflugzeugs für Strecken von bis zu 500 Kilometern.

Nach Abitur und Wehrdienst schreibt er sich für Maschinenbau an der RWTH ein, meistert das Studium innerhalb von drei Jahren, arbeitet parallel bereits als Assistent am Werkzeugmaschinenlabor (WZL) der RWTH und forscht für seine Dissertation.

 

Mit 30 Jahren wird Schuh Oberingenieur am WZL, wenig später Dozent an der Universität St. Gallen und knüpft langsam, aber stetig sein Netzwerk. „Der Job als Oberingenieur war eigentlich der schönste, den man haben kann“, sagt er. Als junger Mann marschiert er mit seinen Forschungsergebnissen in die Vorstandsetagen der Konzerne. „Und die Entscheider dort haben mir zugehört und geglaubt, dass ich Ahnung habe. Das war ein traumhaftes Sprungbrett.“

 

Kleinserie trifft Konzern

Noch Jahre später helfen ihm die Bekanntschaften aus dieser Zeit, etwa die mit dem heutigen VW-Vorstand Herbert Diess, den Schuh als Abteilungsleiter bei BMW kennenlernte. Im März 2019 gab VW bekannt, dass der Konzern seinen Elektrifizierungsbaukasten auch für andere Hersteller öffnen werde. Als weltweit erster externer Partner wird e.GO die VW-Plattform nutzen.

Ein Glücksfall für Schuh, der nach dem Erfolg mit Streetscooter beim Aufbau der e.GO Mobile AG deutlich mehr Gehör in der Industrie fand. Denn mit den Lieferwagen hat er gezeigt, dass sein Konzept aufgeht. Schuh ist Experte für Produktionsmanagement, nicht für Automobilbau. Deshalb denkt er konsequent von der Kostenseite.

Er minimiert Forschung und Entwicklung für Basis-Bauteile und hält so die Ausgaben gering. „Ob die Lenksäule oder das Pedalwerk von uns entwickelt wurden oder von einem anderen Hersteller, spielt in der Wahrnehmung der Kunden keine Rolle“, sagt er. Gleichzeitig seien die Teile sicherheitsrelevant und ihre Entwicklung und Zulassung entsprechend langwierig – Aufwand, den Schuh gerne anderen überlässt.

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Der Antrieb etwa kommt von Bosch, deren Werkstätten die e.GO-Kunden auch für den Service ansteuern sollen. Aus der eigenen Fertigung stammen nur der Aluminiumrahmen, auf dem die kleinen Viersitzer aufgebaut werden, sowie die Außenhaut aus Thermoplast. „Aluminium und Kunststoff sind leicht, relativ einfach zu verarbeiten und rosten nicht“, zählt Schuh die Vorteile auf.

Fast wie beim Trabi verplanken die Monteure die Kunststoffteile in der gewünschten Farbe auf den Rahmen. Statt eines millionenteuren Presswerks für Blech genügen für die e.GO-Karosse eine Handvoll Formen aus dem 3D-­Drucker. Auch so schafft es die Aachener Automanufaktur, ihre Flitzer für nur knapp 16.000 Euro zu verkaufen.

Schuh und sein Team haben den e.GO Life ganz bewusst als Stadt­auto mit einer Reichweite von rund 100 Kilometern kon­zipiert. Mehr braucht es für die meisten Fahrten tatsächlich nicht. Als Beleg dafür zitiert der Pro­fessor Trackingdaten der Auto­versich­erung HUK Coburg, laut denen 24,8 Prozent aller Autos in ihrem ganzen Leben nie mehr als 150 Kilometer am Tag fahren. ­
37 Prozent fahren nie mehr als 200 Kilometer.

 

Sicher wie eine S-Klasse

„Der e.GO ist günstig, praktisch – und macht trotzdem Spaß“, sagt Schuh und schwärmt von der Beschleunigung, die an der Ampel jeden Porsche stehen lasse, vom knuffigen Design und von den großen Rädern und dem breiten Radstand, die für eine gute Straßenlage sorgen. Und sicher ist er auch. Laut Schuh hat er die gleiche Knautschzone wie eine S-Klasse.

Doch das Haupt-Verkaufsargu­ment ist und bleibt der Preis. Nur so könne sich Elektromobilität in Deutschland durchsetzen. Bei ­e.GO schätzen sie den Markt für ein Fahrzeug wie ihres auf 400.000 Neuwagen pro Jahr. Die Autoindustrie glaubt an 20.000.

Doch genauso hält Schuh viele Annahmen der Konkurrenz für falsch. Etwa, dass Lithium-Ionen-Batterien – und damit auch Elektro­autos mit größerer Reichweite – in naher Zukunft substanziell günstiger werden. „Sie werden nie mit Verbrennern mithalten können“, erklärt er. „Also wird auch kein Kunde bereit sein, für ein Auto mehr zu bezahlen, bei dem er weniger bekommt, als er bisher hat.“

Bei Aussagen wie diesen ist Günther Schuh plötzlich wieder Wissenschaftler und nicht Unternehmer. Er glaubt an Zahlen und Statistiken, an seine Forschungsergebnisse und möchte sie zum Konsens machen. Mit e.GO will er auch beweisen, dass es im Hochlohnland Deutschland mithilfe von moderner Industrie-4.0.-Technologie sehr wohl möglich ist, ein wettbewerbsfähiges und bezahlbares Elektroauto zu bauen.

Und nicht nur das. Gemeinsam mit ZF Friedrichshafen haben Schuh und seine Leute den elektrisch und potenziell autonom fahrenden Kleinbus e.GO Mover entwickelt. Im April 2020 soll er in Serie gehen und an die ersten Kommunen für den öffentlichen Nahverkehr übergeben werden.

Der Prototyp steht bereits in der Empfangshalle im Werk 1, nur wenige Schritte entfernt von einem weißen e.GO Life, dessen Türen eine große 100 in einem goldenen Ährenkranz ziert. „Für meinen Vater zum 100. Geburtstag“, erklärt Schuh.

Obwohl dieser inzwischen nicht mehr selbst Auto fahre, ist es ein ganz besonderes Geschenk. Denn es schließt gewissermaßen den Kreis: Zu seinem vierten Geburtstag bekam Günther Schuh ein Gokart, dass der Vater in der Schlosserei des Großvaters gebaut hatte.