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Ein visionärer Unternehmer produziert in Münster Armbanduhren mit nur einem Zeiger. Die ausgefeilten Meistersinger-Uhren sind beliebt bei Sammlern. Eine wachsende Zahl von Liebhabern schwört auf ihren entschleunigenden Effekt.

Reaktionen wie diese erlebt Stefan Loges regelmäßig: Auf einem Juwelier-Event kam ein Rolex-Träger auf ihn zu. Lange wog der die Meistersinger-Uhr in der Hand, drehte sie – und lobte das glasklare Design. „Erst nach einer ganzen Weile fiel es ihm auf“, sagt Loges. „Da fehlt ja ein Zeiger.“ Für den Marketingleiter der Münsteraner Uhrenmanufaktur Meistersinger eine symptomatische Begegnung. Loges weiß: Ab diesem Moment kann die Geschichte in exakt zwei Richtungen weitergehen. „Entweder die Leute lieben uns oder das Gegenteil ist der Fall. Es gibt nur diese Extreme.“ Mitunter kommen Uhren-Con­nais­seure eigens am Meistersinger-Messestand vorbei, „nur um mal loszuwerden, dass eine Einzeigeruhr nix für sie wäre“, sagt Loges schmunzelnd. Er kann es verkraften. Für einen Marketingmann ist nichts schöner als ein Produkt, das differenziert und polarisiert: Eine Armbanduhr mit einem einzigen langen Nadelzeiger. 144 sogenannte Indizes, die zwölf Stunden in Fünf-Minuten-Korridore portionieren, gewölbtes Saphirglas, 1.000 bis 5.000 Euro teuer. Wer auf solch ein Exemplar stößt, hält eine echte Meistersinger in der Hand. „Wir bauen Uhren für Menschen, die sich nicht von Sekunden jagen lassen“, sagt Loges. „Uhren nach menschlichem Maß.“ Mit ein wenig Übung kocht man sein Drei-Minuten-Ei auch mit einer Meistersinger auf den Punkt.

Wer sich eine teure Uhr leistet, kauft immer etwas mehr ein als nur eine verbesserte Chance auf Pünktlichkeit. Meist Status, oft Wert, Stil und mitunter gar ein Stück Lebensanschauung. Bei Meistersinger ist das gewollt. Ruhe, Freiheit, Klarheit – diese Attribute strahlen nicht nur die Uhren aus. Sondern auch der Mann, der hinter der Einzeiger-Philosophie steht: Manfred Brassler. Erfinder, Gründer und Mehrheitseigner von Meistersinger.

Für Menschen, die anders ticken

Brassler sitzt an seinem Arbeitstisch im Eckbüro eines ehemaligen Getreidespeichers. Hinter ihm fließt der Dortmund-­Ems-Kanal. Brassler ist ein Mann von 63 Jahren, dunkle Kleidung, volles Haar, tiefe Gedanken. „Der Moment ist unendlich fein“, sagt er. „Nur wenn wir im Moment leben, sind wir glücklich und die Fragen des Lebens sind beantwortet.“

» Ich wusste, wie die Uhr aussehen soll. Maximale Einfachheit als Benchmark. «

Manfred Brassler, Meistersinger

Brasslers sonore Stimme, der zugewandte Blick, die achtsame Sprache – ein wenig reibt sich das an diesem funktional möblierten Büro. Mit seinen Rollos, dem Neonlicht und den Ablagekästen gleicht es eher einem Hafenkontor. Brassler repräsentiert hier nicht, er arbeitet. Er entwirft Strategien und gestaltet Zifferblätter – als Autodidakt. Die nüchterne Strichhierarchie seiner Uhren ist Messinstrumenten nachempfunden. „Ein Zifferblatt zu zeichnen, heißt weglassen“, sagt Brassler.

Als er 2001 Meistersinger nach zwei Jahren Entwicklungsphase startete, war Brassler eine One-Man-Show. Kaufmann, Gestalter, Familienvater und Handlungsreisender in einer Person. Ein Solist mit einer Vision und Durchhaltewillen. „Ich wusste, wie die Uhr aussehen soll“, sagt er. „Maximale Einfachheit als Bench­mark. Ich war begeistert von den Uhrmachern um 1900. Das waren Hand­werker, die ihrem inneren Plan gefolgt sind.“

Brasslers Plan erwuchs gerade neu. „Mit 46 Jahren stand ich am Scheideweg. Ich musste etwas Neues beginnen.“ Sein Leben hatte Brassler zuvor in München verbracht. Eine Weile im 68er-­Milieu als freiheitsliebender Lebenskünstler, der nachts Taxi fuhr. Dann als findiger Selfmade-Unternehmer, der mit einem Partner einen Großhandel für Uhren und Schmuck zum Laufen gebracht hatte. „Designer-Uhren“ nannten sie jene Quarz-­Ticker, die sich – günstig eingekauft in China – in Münchens Boutiquen für 79 Euro verkaufen ließen. „Die Nachtkästchen waren voll davon“, sagt Brassler lächelnd. „Damals konnte man mit Accessoires noch punkten.“ Und die Marge stimmte.

Brasslers Firma Watchpeople weckte das Interesse eines kantigen Schmuckfabrikanten aus dem westfälischen Hörstel. Brassler verkaufte den Laden, zog mit der Familie hoch ins Tecklenburger Land und quälte sich als angestellter Geschäftsführer ins Büro. Er kündigte nach drei Monaten. „Ich möchte nicht arbeiten unter jemandem, der mich die Dachrinne hoch- und runterschickt.“ Mit Bling-Bling war Brassler in dem Moment durch. Und zwar für immer.

Manfred Brassler ist Pianist. Richard Wagners „Meistersinger von Nürnberg“ standen nicht nur beim Markennamen Pate. Auch die Idee faszinierte den Feingeist: ein Sängerwettstreit des Mittelalters, ausgetragen unter angesehenen Handwerksmeistern. „Tradition mit Moderne verbinden, das ist mein Ziel“, sagt Brassler. Dass Einzeiger­uhren große Tradition haben, ist unbestritten. Man findet sie heute noch an Kirchen wie dem Freiburger Münster und Westminster Abbey. Die ersten Uhrmacher waren Schlosser – mehr Präzision war nicht möglich und nicht nötig. „Bis zur industriellen Revolution, als die Zeitmesser einen zweiten Zeiger bekamen – zur Disziplinierung der Arbeiter in den Fabriken.“
Die Idee des Genauigkeitsverzichts verfängt in einer Ära, in der sich viele nach Entschleunigung sehnen. Meistersingers Credo: Wird die Zeit als fließender Vorgang dargestellt, ohne zwei Informationen zusammenrechnen zu müssen, ändere dies die subjektive Wahrnehmung des Trägers. „Eine auf fünf Minuten genaue Angabe schluckt kleine Verspätungen oder Überpünktlichkeiten, macht womöglich toleranter, auf jeden Fall gelassener“, sagt Marketingchef Loges. Die Meistersinger-Fans seien Sammler und Individualisten: „Man erkennt den Typus kaum an der Kleidung – anders als bei anderen Herstellern, wo schon das Kostüm die Uhrenmarke verrät.“

Meistersinger ist speziell. Das wissen auch die Juweliere, sie sind der entscheidende Vertriebskanal. Als Nischenanbieter liegt Meistersinger dort neben zehn anderen Top-Marken im Schaufenster. Die Fachhändler müssen die Uhren auf eigenes Risiko kaufen, das Geschäft läuft nicht auf Kommission. Ohne Empathie gehe es nicht, sagt Marketingchef Loges: „Ein Juwelier muss das Konzept erklären wollen und nicht sagen: Hier hab’ ich noch was, hat nur einen Zeiger und kommt aus Münster.“

Langsam, aber stetig wachsen

Um jene rund 110 Fachhändler in Deutschland zu würdigen, die Meistersinger seit 2001 fest im Programm haben, begab sich Manfred Brassler 2016 auf eine „Treue-Tour“. Persönlich wollte er sich bedanken. Ein Verkauf über einen Webshop, in Konkurrenz zu den Juwelieren, kommt für ihn nicht infrage. Ehrensache. „Wenn Online-
Verkauf, dann muss er unsere Händler mit einbeziehen“, sagt er. Auch rasantes Wachstum hält er nicht für erstrebenswert. „Wir wachsen vorsichtig und kontinuierlich“, sagt Brassler, ohne Umsätze zu nennen. „Und kommen sehr gut über die Runden.“ Nachdem Meistersinger die Finanzkrise von 2008 nach eigener Aussage unbeschadet überstanden hatte, wuchs die Hoffnung, auch weiterhin geschäftlich gegen den Strom schwimmen zu können. 2014 und 2015 sah es danach aus: Das Unternehmen legte gegen den Branchentrend um je 15 Prozent zu. Doch dann stagnierten 2016 die Umsätze. Überraschend, räumt Brassler ein. „Wir merkten, dass wir doch nicht abgekoppelt sind von der Uhrenkonjunktur.“ Grund: Die Überbestände, mit denen Juweliere aufgrund der Absatzprobleme kämpfen, dämpften insgesamt die Lust, Neuware zu bestellen. Auch wenn Meistersinger mit den zuletzt eingebrochenen Märkten China und Russland nichts zu tun hat – mittelbar leidet man mit.

Technisch ist der Hersteller über jeden Zweifel erhaben. Tür an Tür im Getreide­speicher sitzt Uhrmachermeister Christian Czesla in seiner Werkstatt. Er hat Brassler vom Start weg mit seiner Expertise beraten. „Wir haben uns qualitativ immer weiter verbessert“, sagt Czesla. „Technisch ist zwischen 2001 und heute bei uns mehr passiert als bei mancher großen Marke seit den 90er-Jahren.“ Besonders begeistert ihn die mutige Entscheidung, zwei eigene Uhrwerke für Premiummodelle auf den Markt gebracht zu haben. Kraftvolle Kaliber mit fünf Tagen Gangreserve.

Design auf höchstem Niveau

Ein junger Uhrmachermeister aus Glashütte hat den von der Fachwelt hoch gepriesenen Meistersinger-Motor entwickelt: Johannes Jahnke vom Partnerunternehmen Synergies Horlogères. Der deutsche Uhrmachermeister sitzt am Fertigungs­standort in Biel, zugleich das Zentrum der schweizerischen Uhrenindustrie. Hier lässt Meistersinger alle Uhren produzieren. „Das Konzept aus Deutschland, aber Swiss Made“, fasst Loges zusammen.

„Die Meistersinger-Kaliber laufen wirklich rund“, sagt Czesla. Die Konstruktion mit zwei Federhäusern sei so klug gewählt, dass Weiterentwicklungen und künftige Komplikationen eingebettet werden können. Ein Clou: Brassler hat selber zwei Bauteile der komplexen Werke gestaltet: den Rotor und die Brücke. „Er hat sich freigemacht von allem, was war“, sagt Czesla. „Es ist wunderschön geworden.“ Fand auch die Jury des Designpreises Red Dot – und verlieh einen Award für das Handaufzugswerk.

Wer heute mit Brassler spricht, merkt schnell: Er geht auf in dem, was er tut. „Eine mechanische Uhr ist eine Technologie der Vergangenheit“, sagt er. Niemals könne man mit einem mechanischen Werk die Präzision einer noch so billigen Quarz­uhr erreichen. Technisch unmöglich. Doch im Abwegigen wohnt Schönheit: „Kein Mensch braucht eine Uhr“, sagt Brassler. Es lässt ihn gelassen.

(c) Creditreform-Magazin

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