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© Alex Kraus

Bestsellerautor, Keynotespeaker, Berater – der Wirtschaftsphilosoph Anders Indset trifft mit seinen Gedankenspielen zur digitalen Transformation und zum Wandel der Arbeit den Nerv der Zeit. Im Interview spricht er über die Bedeutung der Philosophie für die Ökonomie, über zukunftsfähige Wirtschaftsmodelle und eine neue Art von Führungskräften.

 

Herr Indset, vielen Unternehmern und Managern, die sich an Kennzahlen und handfesten Zielgrößen orientieren, gilt die Philosophie als spekulativ und schöngeistig. Warum lesen genau diese Menschen Ihre Bücher und kommen zu Ihren Vorträgen?

Weil sie spüren, dass sich etwas verändert und dass sie den aktuellen Anforderungen mit ihren bisherigen Denk- und Lösungsmodellen nicht mehr gerecht werden.

Lange Zeit bedeutete Management vor allem, zu bewahren und zu verwalten. Denn das bringt Stabilität und in Unternehmen braucht man Stabilität. Aber das alleine reicht nicht mehr.

Heute brauchen Unternehmen auch Kreation, Innovation, Disruption – also Wandel. Und um Wandel anzutreiben, brauchen wir keine Verwalter, sondern Vordenker und Gestalter.

 

Das klingt, als stünde auch dem Berufsbild des Geschäftsführers ein großer Wandel bevor.

Ja, es geht mehr denn je um den Umgang mit Menschen – und dafür sind andere Fähigkeiten gefragt als noch vor zehn oder 20 Jahren.

Die sogenannten Soft Skills werden mehr und mehr zu den wirklichen Hard Skills. Künftige Leader müssen ihre Mitarbeiter mit Emotionen, mit Kommunikation motivieren.

Sie müssen Vertrauen aufbauen, Kulturen etablieren, neue Geschichten schreiben und dürfen dabei ruhig auch Verletzbarkeit zeigen.

Es geht um Empathie und es gibt viele junge Menschen, die dafür offen sind und die richtigen Fragen stellen.

Aber genauso viele arrivierte Manager tun sich schwer damit, weil sie es abtrainiert haben und in einer anderen Form der hierarchischen, autoritären, klassischen Führung sozialisiert wurden. Wer jahrzehntelang nicht empathisch sein durfte, der kann das nur schwer und nicht über Nacht ändern.

Zur Person

Anders Indset stammt aus der norwegischen Stadt Røros. Als Student kam Indset nach Deutschland, um die deutschen Philosophen in Originalsprache lesen zu lernen.

 

Danach arbeitete er rund zehn Jahre als Unternehmer und Berater für Hidden Champions und Dax-Konzerne. Heute verbindet Indset die klassische Philosophie der Vergangenheit mit Technologie und Wissenschaft von morgen und gilt als einer der weltweit führenden Wirtschaftsphilosophen.

 

Sein Buch „Quantenwirtschaft. Was kommt nach der Digitalisierung?“ ist ein Bestseller und stand an der Spitze vieler Bücherrankings. Im September 2019 erschien zudem die deutsche Übersetzung seines Buchs „Wildes Wissen. ­Klarer denken als die Revolution erlaubt“.

Neben Ihren Büchern und Vorträgen coachen Sie Führungskräfte auch unter vier Augen. Rauben Ihre Prognosen Topmanagern den Schlaf?

Das glaube ich nicht. Aber vielen wird durchaus bewusst, dass sie an ihre Grenzen stoßen. Den allwissenden Chef, der im Zweifel immer besser Bescheid weiß als seine Mitarbeiter, gibt es nicht mehr.

Heute ist nicht mehr relevant, wer etwas sagt, sondern, was gesagt wird. Und es ist nicht relevant, wer etwas tut, sondern, was getan wird. Viele ältere Führungskräfte versuchen, darauf zu reagieren, indem sie immer noch selbstbewusst auftreten und keine Zweifel spüren lassen.

Unternehmen brauchen die Fähigkeit, Dinge zu hinterfragen. Nur so entstehen radikal neue Ideen und Ansätze.

Und wo kommt nun die Philosophie ins Spiel?

Ich bin überzeugt davon, dass Unternehmer und Führungskräfte davon profitieren, wenn sie sich mit Philosophie beschäftigen und lernen, weiter zu denken. Führungskräfte brauchen heute philosophische Kontemplation.

Philosophen schreiben Bücher, praktische Philosophie verändert die Welt. Expertenwissen ist zwar wichtig, aber das meiste habe ich inzwischen längst in der Hosentasche auf dem Smartphone.

Was Unternehmen brauchen, ist also die Fähigkeit, Dinge zu hinterfragen. Nur so entstehen radikal neue Ideen und Ansätze. Weil ein Geschäftsmodell lange Zeit erfolgreich war, heißt das noch lange nicht, dass es auch in Zukunft erfolgreich ist.

Ich ermutige jeden deshalb zu einem gesunden Skeptizismus und dazu, immer auch eine zweite oder dritte Denkweise einzunehmen.

 

Sie sehen die Menschheit mit zwei gigantischen Herausforderungen konfrontiert: Die erste ist, die Zerstörung der natürlichen Ressourcen aufzuhalten. Die zweite betrifft die Frage, wie wir mit den sich rasant entwickelnden Technologien leben wollen …

Ich spüre immer häufiger eine Unsicherheit. Leute, die ich treffe, haben das Gefühl: Irgendetwas läuft falsch. Oder: Ich habe Sorge, welche Welt ich der nächsten und übernächsten Generation hinterlasse.

Das sind wirklich existenzielle Gedanken. Was passiert, wenn wir unsere Lebensgrundlage zerstören? Wie vermeiden wir einen Kollaps? Solche Fragen kommen zumindest in der westlichen Welt bei Führungskräften zunehmend an.

 

Dass die Ressourcen der Erde begrenzt sind, ist jedem klar. Insofern müsste auch klar sein, dass auf diesen Ressourcen basiertes Wirtschaftswachstum irgendwann an seine Grenzen stößt. Aber was wäre die Alternative?

(c) Thomas Gasparini

Ich habe nichts gegen Wirtschaftswachstum, ganz im Gegenteil. Aber das Ziel muss es sein, Wachstum so umzugestalten, dass es möglichst wenige Ressourcen verbraucht – oder besser noch, dass es Ressourcen schafft.

Warum denken wir zum Beispiel nur darüber nach, wie wir CO2-Emissionen reduzieren können? Wäre es nicht viel besser, wenn Unternehmen sogar negative Emissionen herstellen, indem sie CO2 aus der Luft ziehen und daraus etwas produzieren.

Um den Kollaps der Erde aufzuhalten, ist das für mich der einzige Weg: alles, was singulär gebraucht wird, unendlich einsetzbar zu machen. Dafür müssen wir aber ganzheitlich denken.

Alle sprechen von Plattformökonomie, von Kreislaufwirtschaft, von Nachhaltigkeit. Für mich gehört das alles zusammen. Die Plattformökonomie geht ja davon aus, dass Verbraucher zu Gebrauchern werden.

In Zukunft würden wir also beispielsweise keine Glühbirnen mehr kaufen, sondern Licht. Das führt dazu, dass der Hersteller von Glühbirnen sein ganzes Geschäft auf den Kopf stellen muss.

Denn er darf keine Glühbirne mehr verkaufen, die nach 1.000 Stunden kaputtgeht – und die dann er als Lichtanbieter und nicht der Kunde wechseln müsste. Besser wäre eine Birne, die unendlich lange hält oder die, wenn sie kaputtgeht, komplett reparierbar wäre. Das ist dann eine echte Kreislaufwirtschaft.

Es heißt zwar digitale Transformation. Aber keiner kann sagen, was das Stadium ist, das wir erreichen wollen.

Die zweite Herausforderung ist Technologie. Sie sprechen von einem digitalen Tsunami, der Unternehmen und Menschen zu überrollen droht. Das klingt besorgniserregend …

Das ist es auch. Deshalb sollten wir Strategien entwickeln, diese Herausforderung zu meistern. Machen wir uns bewusst, dass wir noch immer ganz am Anfang des digitalen Wandels stehen und viele Fragen schlicht nicht beantworten können.

Das fängt schon damit an, dass es zwar digitale Transformation heißt – aber keiner sagen kann, wann sie abgeschlossen ist. Bei einer Transformation gibt es einen Anfang und ein Ende – aber was ist das Stadium, das wir erreichen wollen?

Was kommt nach der Digitalisierung? Das ist für mich eine neue philosophische Fragestellung, genauso wie die nach dem Leben nach dem Tod oder ob das Universum real ist.

Was bedeutet Digitalisierung für unser Leben, für unsere Zukunft, für unsere Familie, für unseren Arbeitsplatz? Nur wenn wir uns diese Fragen stellen, können wir über Szenarien und Zustände nachdenken, die wir tatsächlich erreichen wollen.

 

Dazu passt Ihr Ausspruch: „Die Digitalisierung bestimmt den Weg des Business, aber wir Menschen bestimmen, welche Richtung sie einschlagen soll.“ Es ist also noch nicht zu spät?

Nein, ich glaube, wir haben noch Zeit, aber nicht viel. Sowohl für den Ökokollaps als auch bei der Digitalisierung werden die nächsten zehn Jahre entscheidend sein.

Die Herausforderung heute ist, ein Bewusstsein zu schaffen und wirklich zu verstehen, was wir gerade tun. Gerade in Europa haben wir die Chance, einen eigenen, auf humanistischen Werten basierenden Umgang mit der Digitalisierung zu finden.

Welche Auswirkungen auf maschinellem Lernen basierende Lösungen wie etwa Social Scoring oder Gesichtserkennung haben, werden wir in China beobachten.

 

Und Sie selbst? Haben Sie Sorge, eines Tages von einem philosophierenden Computer ersetzt zu werden?

Ich halte es für denkbar – und setze deshalb meinen ganzen Verstand dafür ein, dass das nicht passiert. Denn ich bin Optimist. Wenn es mir darum ginge, mehr Bücher zu verkaufen oder mehr Aufmerksamkeit in den Medien zu erhalten, würde ich den Weltuntergang prophezeien.

Aber ich möchte meinen Kindern und Enkelkindern eine Welt hinterlassen, die mindestens genauso gut ist wie unsere heutige Welt. Deshalb wähle ich eine optimistische Perspektive und trage meinen Teil dazu bei, dass sie eintritt.